Die Galerie der Lügen
Bibliothekarin und arbeite in einem der wenigen noch nicht von den Branchenhaien geschluckten Privatläden.«
»Eine Buchhändlerin?«, fragte Alex erstaunt zurück. Sie hütete sich vor einer Äußerung vom Schlage: So etwas sieht man dir aber nicht an.
Lucy deutete auf mehrere Stapel Bücher, die auf dem Boden verteilt herumlagen. »Brauchst dich nur umzusehen. Alles mein Hirnfutter. Leonardo da Vinci sagte mal: › So wie das Eisen außer Gebrauch rostet und das stillstehende Wasser verdirbt oder bei Kälte gefriert, so verkommt der Geist ohne Übung. ‹ « Sie grinste. »Ich übe täglich.«
»Sag bloß, du sammelst auch Zitate!«
»Lässt sich das vermeiden, wenn man viel liest?«
Beide lachten. Sie nippten an dem inzwischen lauwarmen Früchte tee.
»Du hast vorhin deine Eltern erwähnt. Wie wächst man als Hermaphrodit auf?«
»Das vermag ich dir nicht zu sagen, Lucy. Ich kann dir nur erzählen, wie ich groß geworden bin.« Und das tat Alex dann. Sie berichtete aus der Anfangszeit ihrer Erinnerungen, als die Familie noch im schottischen Edinburgh gewohnt hatte. Damals habe sie in einer schillernden Seifenblase gelebt, die spätestens bei Beginn der Pubertät zerplatzte. Sie wurde von allen für einen kleinen Jungen gehalten; ihre Vulva war ja unter dem Hodensack gut versteckt. Die Adoptiveltern machten sie früh mit ihrer Besonderheit vertraut. »Du bist ein richtiger Mensch. Kein Junge und kein Mädchen, aber du bist, was du bist«, pflegte ihre Mutter zu sagen.
Für den Besuch von FKK-Stränden konnte sich die puritanisch erzogene Wissenschaftlerin ohnehin nicht erwärmen, und die Sauna war ebenso tabu. Ansonsten gaben Norman und Cynthia Daniels ihrem Kind aber, wie Alex im Rückblick resümierte, angemessene Unterstützung: Sie verleugneten nicht, aber sie überwältigten sie auch nicht mit unverständlichen Erklärungen. Leider blieb dieser unkomplizierte Umgang mit ihrer Zweigeschlechtlichkeit auf das häusliche Umfeld beschränkt, woraus sich für Alex ein zunehmend ernstes Problem entwickelte.
Ärzte hatten den Eltern geraten, sich für ein Geschlecht zu entscheiden. Wie Alex später erfuhr, hätte sie schon als Säugling operiert werden sollen, frei nach der Devise: »Alles abschneiden, was übersteht.« Tatsächlich wurden Mitte der Achtziger kleine intersexuelle Kinder noch bedenkenlos verstümmelt, weil es einfacher sei, ein Loch zu graben, als einen Pfahl zu errichten: It’s easier to make a hole than a pole. Mädchen waren nun mal billiger herzustellen, und in Alex’ Fall schien der Eingriff geradezu ein Schnäppchen zu sein – das »Loch« war ja schon vorhanden.
»Ist ja ungeheuerlich!«, entfuhr es Lucy voll gerechten Zorns.
»Wie man’s nimmt«, erwiderte Alex mäßigend. »Noch vor zehn Jahren – stell dir das mal vor: unmittelbar vor dem Milleniums wechsel – herrschte die allgemeine Auffassung, die geschlechtliche Orientierung eines Menschen sei ein soziales Konstrukt, soll heißen, wenn man einen Jungen, ehe er drei geworden ist, fortan als Mädchen erzieht, dann wird er auch eins werden. Das war ein Dogma, verbissen verteidigt von Dr. John Money am Johns Hopkins Hospital in Baltimore. Wenn damals jemand Wert auf seinen Ruf als Mediziner legte, dann behielt er seine Zweifel an den Theorien des Sexualforschers besser für sich.«
»Ist doch irre!«
»Solche Auswüchse von Starrsinn kommen in der Wissenschaft öfter mal vor.«
»Und heute ist man von dieser idiotischen Meinung abgerückt?«
»Naja, es gibt natürlich immer noch genügend Ärzte, die ihre Fortbildung schleifen lassen und lieber Löcher graben, aber spätestens seit den Reimer-Zwillingen ist man klüger.«
»Nie gehört.«
»Zwei Jungen aus Kanada: Bruce und Brian Reimer. Sie sollten eine Vorhautbeschneidung bekommen. Dem armen Bruce haben die Ärzte dabei den Penis weggebrannt. War nur noch ein Stück Kohle, das kleine Ding. › Kein Problem ‹, beruhigte das Expertenteam die verständlicherweise verschreckten Eltern, › wir machen ein Mädchen draus. ‹ So wurde aus Bruce eine Brenda gebastelt. Seinem Bruder Brian blieb die Beschneidung erspart. Unfreiwillig schufen die › Experten ‹ damit ein Menschenexperiment. Später sollte sich nämlich herausstellen, dass die kleine Brenda sich mit ihrer Rolle als Mädchen überhaupt nicht wohl fühlte. Milde ausgedrückt. Sie verbrachte eine unglückliche Jugend, blieb in der Schule weit hinter den Leistungen ihres eineiigen Zwillingsbruders zurück und
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