Die Galerie der Lügen
eigenen Körper entfremde, der müsse ein seelischer Dickhäuter sein, sagte ihr Jahre später eine Psychotherapeutin.
»Ich bin immer noch dabei, ihn mir zurückzuerobern«, fügte Alex leise hinzu.
Darwin Shaws Schwester sah sie lange an, augenscheinlich mitfühlend, aber sie machte keine Heulnummer draus. Stattdessen sagte sie: »Darwin ließ da so eine Bemerkung fallen: Du hättest in der Notaufnahme einen Arzt zur Minna gemacht. Das kann ich gut verstehen. Ich will nicht behaupten, mich in deine Lage versetzen zu können, aber du hast jedes Recht, zornig zu sein.«
Lucy wusste wahrscheinlich gar nicht, wie viel ihre Worte Alex bedeuteten. Mit einem Mal musste sie schmunzeln.
»Woran denkst du gerade?«, fragte Lucy.
»Im University College Hospital gab’s einen Professor mit stumpfem Skalpell.«
»Wie meinst du das?«
»Er wollte mich nicht operieren. Stattdessen empfahl er mir, mich nicht so schnell zu entscheiden, wo ich doch die Chance habe, sexuell beide Seiten auszuleben. Stell dir das mal vor. Für mich war das fast ein unsittliches Ansinnen. Meine Eltern waren ziemlich religiös. Ich bin sittsam aufgezogen worden.«
»Bist du noch Jungfrau?«
Alex war einen Moment perplex. »Findest du nicht, dass du jetzt etwas zu weit gehst, Lucy?«
»Wieso? Ich sag dir doch auch, dass ich keine mehr bin.«
»Das ist sehr nett von dir, aber es gibt Bereiche im Leben, über die…«
»Hab schon verstanden. Aber sonst kommst du mir eigentlich ganz normal vor. Wie bist du so geworden, wie du bist?«
Das sei ein langer und steiniger Weg gewesen, räumte Alex ein. Mit dreizehn, als die Frau in ihr täglich stärker zum Vorschein kam, habe sie sich die Schuld an ihrem Anderssein gegeben. Obwohl ihre Adoptivmutter sagte, sie sei ein drittes Geschlecht, das selten und etwas ganz Besonderes sei, beschlich Alex zunehmend die Ahnung, mit ihr stimme etwas nicht. Sie gehöre nicht dazu. Vielleicht darf ich keine richtige Frau werden, weil meine Mutter mich sonst als Bedrohung empfinden würde, dachte sie. Nachts wurde sie von Albträumen geplagt.
Die Wende zum Besseren vollzog sich ganz allmählich. Alex fing an, Bücher über ihr biologisches Phänomen zu lesen und im Internet zu recherchieren. Irgendwo hatte sie gelesen, das Bewusstsein fürs eigene Geschlecht sei auch aus anthropologischer Sicht ein Kernbestandteil der Identität eines Menschen. Das gab wohl den Ausschlag für das Studium der Fachrichtung »Anthropologie und Kommunikation« am Goldsmiths College der University of London. Nach dem Bachelor of Arts hatte sie dann noch das einjährige Aufbaustudium in »Journalismus« drangehängt und ihren Master gemacht.
Mit neunzehn war sie zum letzten Mal zu einem Untersuchungstermin gegangen, aber nicht, um sich auf den Gynäkologenstuhl zu setzen, sondern um ihre Patientenakte herauszufordern. Die Klinik weigerte sich. Erst auf Gerichtsbeschluss erhielt sie die Unterlagen und konnte lesen, was wirklich mit ihr los war.
»Ich denke, du wusstest schon von klein auf, dass du ein Hermaphrodit bist«, wunderte sich Lucy.
»Ja, doch jetzt konnte ich schwarz auf weiß lesen, dass ich ein 48,XXXY-Karyotyp bin.«
»Ein… bitte, was?«
»Meine Gonosomen, die Geschlechtschromosomen, sind doppelt vorhanden. Ich habe also nicht nur ein Paar X- und Y-Chromosomen wie vermutlich du, sondern noch zusätzlich zwei Xe.«
»Ist ja irre! Wie kommt so was?«
Mutationen, antwortete Alex. Die meisten intersexuellen Phänomene seien eine Folge sprunghafter Veränderungen der Erbanlagen. Dieser › Sprung ‹ könne allerdings schon vor vielen Generationen erfolgt sein, und weil er rezessiv vererbt werde, sich also vornehm im Hintergrund halte, trete er oft erst zu Tage, wenn zwei Menschen mit demselben Gendefekt ein Kind bekämen. »In meinem Fall scheint das ein bisschen komplizierter zu sein«, fügte Alex nachdenklich an. »Bei Pflanzen kann die Vervielfachung von Chromosomensätzen unter Einwirkung bestimmter Chemikalien auftreten, aber wie ich zu meinen doppelten Gonosomen gekommen bin, konnte mir bis heute niemand definitiv sagen.«
Lucy beugte sich vor und betrachtete Alex’ Gesicht von links und von rechts. »Ich sehe keine Bartstoppeln. Wie kommt das?«
»Die meisten Indianer haben auch keinen Bartwuchs.«
»Bist du etwa ein…? «
Alex lächelte. »Wohl eher nicht. Laut meinen Unterlagen habe ich zusätzlich zu meinem 48,XXXY-Karyotyp eine sehr seltene Art der Androgenresistenz.«
»Alles klar.«
»Androgene
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