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Die Galerie der Lügen

Titel: Die Galerie der Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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wurde nie wirklich als Mädchen anerkannt, weder von den Gleichaltrigen noch von sich selbst. Mit sechzehn Jahren nahm sie dann den Namen David an, unterzog sich einer Reihe äußerst unangenehmer Operationen und heiratete später eine Frau.«
    »Unglaubliche Geschichte!«, staunte Lucy.
    »Wie gesagt, für aufgeklärte Ärzte ist John Moneys Hypothese heute kein Thema mehr. Hirnforscher sind inzwischen der Ansicht, dass es eine sehr frühe Wahrnehmung über das eigene Selbst gibt. Die Vorstellung, das Geschlecht eines Menschen mit dem Skalpell verändern zu können, ist ungefähr genauso dumm wie der Versuch, einem Elefanten den Rüssel abzuschneiden und ihm einzureden, er sei ein Nashorn.«
    »Wahnsinn. Und wie sind deine Eltern damals mit dem Druck der so genannten Experten umgegangen?«
    Das Ehepaar Daniels hätte den Chirurgen, die schon ihre Skalpelle wetzten, den goldenen Schnitt verwehrt, erklärte Alex. Cynthia und Norman waren nicht nur gewiefte Techniker, sondern auch hervorragende Biologen und besaßen offenbar das nötige intellektuelle Rüstzeug, um sich auch in eine schwierige Materie einzuarbeiten. Solches Verhalten galt bei Medizinern als verpönt. Vom ersten großen Aufblühen der Naturwissenschaften im neunzehnten Jahrhundert bis in die Mitte der Neunzigerjahre des zwanzigsten hatten die Ärzte sich das Recht genommen, für sich zu entscheiden, was sie ihren kleinen Patienten oder deren Eltern mitteilen wollten und was nicht. Schließlich waren sie die Fachleute und wussten, was richtig ist. Unterstützung, Aufklärung oder gar so etwas wie Hilfe für Eltern und Kinder gab es keine – weder auf Rezept noch aus Menschlichkeit.
    Dank der Entschlossenheit ihrer Adoptiveltern blieb Alex’ Körper also unverstümmelt. Mit ihrer Seele verhielt es sich dagegen anders. Die Ärzte rieten – auch das war seinerzeit die übliche Praxis und für Cynthia und Norman Daniels sogar nachvollziehbar –, über die »Anomalie des Kindes« mit niemandem zu reden. Die Gesellschaft sei bipolar ausgerichtet: entweder männlich oder weiblich, aber nicht hiervon ein bisschen und davon ein bisschen. Sie akzeptiere solche Menschen nicht. So etwas führe nur zur Ausgrenzung. Wer wolle seinem Kind schon Derartiges antun? Damit wurde ein Teufelskreislauf in Gang gesetzt, ein fatales Versteckspiel, das zu immer neuen Lügen führte und das in Alex’ Psyche tiefe Wunden schlug. Anstatt sich vor Ausgrenzung zu schützen, grenzte sich der heranwachsende Hermaphrodit nun selbst aus. Aber es sollte noch schlimmer kommen.
    Mit dreizehn bekam sie ihre »Knöspchen«, wie die Mutter es nannte. Die Familie zog nach London und kaufte ein Haus in Camden Town. Eher aus einem indifferenten Gefühl heraus entschied sich Alex für einen radikalen Wechsel. Ihr Busen sei nun wirklich nicht der Rede wert…
    »Ich finde ihn schön«, unterbrach Lucy, die bis dahin angespannt gelauscht hatte.
    »Jetzt hör aber auf! Ich bin flach wie ein Brett.«
    »Quatsch! Hast du dich schon einmal gefragt, ob du möglicherweise eine gestörte Wahrnehmung hast, was deinen eigenen Körper betrifft?«
    »Ich…« Alex blickte an sich herab, spannte das T-Shirt mit beiden Händen über dem Leib, um – im durchaus wörtlichen Sinne – das Letzte aus sich herauszuholen. »Meinst du, das sind richtige…?«
    »Also, es sind definitiv keine Pamela-Anderson-Baywatch-Heißluftballons, aber ich wette, mein Bruderherz hat seine Freude daran gehabt.«
    »Meinst du wirklich? Er sah mir eher verstört aus.«
    »Heute Abend vielleicht, als du ihn mit der Nummer auf dem Klo außer Gefecht gesetzt hast. Aber sonst? Da w ä r ich mir nicht so sicher.«
    Alex verspürte das Bedürfnis, sich einen weiteren Schluck Tee zu genehmigen, aber ihre Tasse war leer. Lucy schenkte ihr aus der auf einem Stövchen bereit stehenden Glaskanne nach.
    »Was war jetzt mit dem Teufelskreislauf?«, nahm sie den Faden wieder auf.
    Der sei so richtig losgegangen, als die Ärzte sie wieder in die Finger kriegten, erklärte Alex. Ihre Stimme klang unerwartet düster. Mit einem Mal war er wieder da, der Druck, sich einem chirurgischen Eingriff zu unterziehen, sich Hormone spritzen zu lassen. Sie wurde von einem Mediziner zum nächsten durchgereicht. Der Gynäkologenstuhl wurde ihre zweite Heimat. Scharen von Studenten beglotzten, vermaßen und fotografierten ihre Genitalien. Immer wieder hieß es, Hose runterlassen, Beine breit machen, wollen mal gucken, was wir da haben. Wer sich da nicht dem

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