Die Galerie der Lügen
aufgestauten Bedürfnis nachgab, über ihr Anderssein zu reden.
Jedenfalls hatte Lucy weniger als eine halbe Stunde nach dem Kennenlernen ihren neuen Logiergast gefragt: »Steht Alex für Alexander oder für Alexandra?« Und nach diesem ersten, nicht wirklich scheuen Vorstoß schob sie gleich die Frage nach: »Kriegen Zwitter eigentlich auch die Regel?«
Alex hielt kurz die Luft an – alte Ängste wirft man eben doch nicht wie schmutzige Wäsche ab –, aber dann lächelte sie, wenn auch anfangs noch scheu. »Vielleicht die zweite Antwort zuerst: Wenn du zu Schwarzen nicht Nigger sagst, dann solltest du einen Hermaphroditen auch nicht Zwitter nennen.«
»Oh! Entschuldige. Das wusste ich nicht.«
»Antwort Nummer eins: Ich hieß immer nur Alex. Als meine Eltern mich adoptierten, wussten sie, was sie bekamen. Sie wollten mir für die Zukunft alle Türen offen lassen.«
»Aber du bist bei dem vieldeutigen Namen geblieben. Fühlst du dich mehr als Frau oder als Mann?«
»Als beides.« Alex musste unwillkürlich an ein Gespräch denken, dass sie kürzlich mit Lucys Bruder über die Traumsymbole im Magritte geführt hatte. »Sagen wir zu sechzig Prozent weiblich und zu vierzig männlich. Manchmal kann ich sogar ein ziemlich chauvinistischer Kerl sein, der sich schwer zügeln lässt. Aber ich bin kein Apfel, mit einer roten und einer grünen Seite, den man einfach in zwei Hälften teilen kann; eher eine Zwiebel mit vielen männlichen und weiblichen Schichten, die sich abwechseln.«
»Und außen ist die Frau zu sehen?«
»Solange sie nicht pinkeln muss.«
Lucy kicherte. »Ich stell mir gerade Darwin vor, wie er aus allen Wolken gefallen ist. Er kann manchmal ziemlich steif sein. Sein Vater war General.«
»Ich hätte uns beiden den Anblick gerne erspart.«
»Nimm ihm seine Verklemmtheit nicht übel. Er ist eigentlich ganz in Ordnung. Das, was du da hast… ich weiß nicht, wie ich es nennen soll… Wörter wie › Krankheit ‹ oder › Defekt ‹ sind wohl nicht ganz passend dafür, oder?«
»Ich nenne es lieber ein biologisches Phänomen.«
»Klingt gut.«
»In der Antike hat man die Hermaphroditen nur als eigentümliche Spielarten und Besonderheiten der Gattung Mensch gesehen.«
»Gibt es viele wie dich?«
Alex zögerte. Sie hatte sich diese Frage schon oft gestellt. Ausweichend antwortete sie: »Wenn jemand wie ich funktionsfähige männliche und weibliche Geschlechtsorgane hat, dann nennt man das einen echten Hermaphroditen. Stell dir die Sexualität als eine Wippe vor, auf der hüben ein Mädchen und drüben ein Junge sitzt – ich stehe dann ziemlich genau in der Mitte. Auf der ganzen Welt gibt’s von uns weniger als dreihundert.«
»Echte…? Hört sich so an, als gäbe es auch eine unechte Variante.«
»Man nennt sie Pseudohermaphroditen, was die meisten von ihnen aber genauso ungern höre n wie das Wort Zwitter. Pseudo – das klingt irgendwie nach nichts Halbem und nichts Ganzem.«
Lucy staunte nicht schlecht, als Alex ihr ein paar Fakten nannte. Auf den Webseiten der Selbsthilfegruppen geisterte die Zahl von viertausenddreihundert Intersexvarianten herum. Das sei wohl etwas übertrieben, merkte sie an. Ihr seien lediglich etwa zwanzig verschiedene Diagnosen bekannt, alles Abweichungen von der typischen genetischen Entwicklung. Immerhin komme in westlichen Industrienationen seriöseren Untersuchungen zufolge ein Mensch mit uneindeutigem Geschlecht auf fünfzig bis fünftausend Einwohner. Angaben, die zwischen einem halben bis einem Promille rangierten, seien ziemlich häufig. Wenn einer unter Tausend intersexuell sei, dann dürften allein in Großbritannien immerhin sechzigtausend solcher Menschen leben. Wahrscheinlich kenne jeder einen, wisse nur nichts davon, weil die Betroffenen kaum über ihre Besonderheit redeten. » Wie gesagt, die wenigsten Forme n der Intersexualität seien so › ausgewogen ‹ wie die ihre, betonte Alex. Es gebe Hypospadie, das Adrenogenitale Syndrom, das Turner-Syndrom, das Androgen-Insensitivitätssyndrom, den 5-alpha-Reduktase-Mangel…«
»Halt mal, war nicht Cal in Middlesex so ein… Wie heißt das noch mal?«
»5-Alpha-Reduktase-Pseudohermaphrodit?«
»Um Himmels willen! Kein Wunder, dass sich die Leute davor fürchten. Könnte man nicht einfach sagen, er war ein Mann in einem Frauenkörper?«
»Mediziner neigen zur Pingeligkeit.«
»Wem sagst du das!«
»Wie bist du auf das Buch gekommen?«
»Den Roman von Eugenides? Ich bin staatlich examinierte
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