Die Galerie der Lügen
an.
Wenn es etwas gab, das Shaw mit seiner Schwester gemein hatte, dann war es nicht auf Anhieb zu entdecken. Lucy sah, milde ausgedrückt, unkonventionell aus. Ihre Haare waren so rot, dass Mrs Axelrods Lippen dagegen blass gewirkt hätten. Eine nicht näher spezifizierbare Anzahl daumenlanger Zöpfchen standen von ihrem Kopf ab, alle sorgsam in knallbunte Plastikmanschetten gefasst. Sie trug eine runde Brille aus Silberdraht, hinter der blaue Augen neugierig strahlten. Vom Hals an abwärts war sie in eine Art knielanger Patchwork-Tunika gekleidet, für deren Anfertigung vermutlich einige Küchenschürzen und Gardinen hatten herhalten müssen. Unter dem ausgefallenen Stück ragten Hosenbeine passend zur Haarfarbe heraus. Die Füße steckten in Espandrillos, schwarzen Stoffschuhen mit geflochtener Sohle. Insgesamt war Lucy eher klein, aber wie sich im Laufe des Abends noch herausstellen sollte, ein wahres Energiebündel.
Darwins kleine Schwester hieß nicht Shaw, sondern Ashby, weil seine Mutter nach dem Tod des ersten Mannes ein zweites Mal geheiratet und noch ein Kind bekommen hatte. Ihr Vater war Manager bei General Electric und oft monatelang im Ausland, um kränkelnde Fertigungsstätten wieder hochzupäppeln. Seine Frau begleitete ihn dabei. In sol chen Phasen – wie gerade jetzt – durfte Lucy das Haus ganz allein auf den Kopf stellen.
Somit war sie mit ihren sechsundzwanzig Jahren immer noch das Nesthäkchen der Familie und eine ziemlich schräge Type. Irgendwie gewann Alex schnell Zutrauen zu der »verrückten Nudel«, wie sich Lucy selbst einstufte. Ihre offene Art konnte zwar im ersten Moment schockierend auf jemanden wirken, der sein Leben lang mit anderen Leuten Versteck gespielt hatte, aber bald entdeckte Alex hinter dem aufgedrehten Äußeren etwas Erstaunliches: Lucy Ashby besaß die Gabe, einen Menschen als Ganzes zu sehen.
Nicht als eine unzusammenhängende Anhäufung von Körperteilen.
Die zwei Geschwister hatten in der Küche kurz miteinander getuschelt. Danach war Darwin mit einem gemurmelten, kaum verständlichen Gruß in die Nacht geflüchtet. Lucy hatte hinter ihm die Tür geschlossen, sehr tief durchgeatmet und sich dann mit einem überraschend offenen Lächeln ihrem Gast zugewandt. Hinter ihren Brillengläsern entdeckte Alex Wissensdurst – aber kein Monsterding.
»Du musst halbtot sein«, sagte Lucy in unerwartet vertraulichem Ton. »Such dir im Wohnzimmer ein kuscheliges Plätzchen. Aber erschrick nicht: Bei mir liegen überall Bücher rum. Räum sie einfach zur Seite. Ich mach uns in der Zwischenzeit einen Früchtetee.«
Im weiteren Verlauf des Abends merkte Alex, dass mit ihr etwas Erstaunliches geschehen war. Und es hielt immer noch an! Anfangs war sie zu verletzt und zu durcheinander gewesen, um die Veränderung zu begreifen. Es musste mit der Bloßstellung ihrer lange so sorgsam verborgenen Natur zusammenhängen. Aus Angst verletzt oder nur auf ihre Sexualität reduziert zu werden, hatte sie sich selbst verleugnet. Sie war zu einer Heuschrecke geworden, die wie ein Ast aussah. Eine Meisterin der Tarnung. Unsichtbar. Selbst ihre beste Freundin, Susan, wusste nicht, dass sie ein Hermaphrodit war. Auch die Rolle der angriffslustigen Journalistin gehörte zu der Camouflage. Alex hätte nie auszusprechen gewagt, was sie in ihrem tiefsten Innern empfand:
Seht her! Das Wunder der Evolution ist gar nicht so wunderbar. Wenn die Natur richtig gemein sein will, dann benutzt sie Mutationen und verstümmelt und zerstört. Oder bringt Wesen wie mich hervor. Geschöpfe, die nirgendwo hinpassen, die wie Monster angestarrt werden, aber die niemand haben will.
Nein, zu solchen Äußerungen, ob geschrieben oder gesprochen, wäre sie nie imstande gewesen.
Sie hatte eine andere Taktik gewählt, um die allseits vergötterte Evolution als Götzen zu entlarven. Die wahre, die verletzliche Alex Daniels hatte sich hinter der Gestalt einer Hornisse versteckt, deren Stachel die Feder war. Auch dafür gab es in der Natur Vorbilder.
Richtig, man nannte es Mimikry.
Bei Lucy Ashby versagten all diese Strategien. Sie wusste von Anfang an, mit wem sie es zu tun hatte, und sie ging auf eine so unbefangene Weise mit diesem Wissen um, dass Alex sich fragte, ob entweder Darwins Schwester ebenfalls ein Mutant war – eine Empathieriesin, die sich hinter der Fassade der kleinen verrückten Nudel versteckte – oder sie, Alex, endlich aus dem Schatten der Lüge herausgetreten war und hemmungslos dem über Jahre
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