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Die Galerie der Lügen

Titel: Die Galerie der Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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ist mir lieber. Bis dann.«
    Darwin verabschiedete sich und warf das Telefon auf den Küchentisch. Er fühlte sich wie ein Dampfkochtopf kurz vor dem Explodieren. In Außerachtlassung jeglicher Würde wankte er mit zusammengekniffenen Beinen aus der Küche hinaus, in den Flur hinein und zum Badezimmer hinüber. Kurz vor dem Dammbruch riss er die Tür auf.
    Und erlebte einen Schock.
    Vor der Klosettschüssel stand breitbeinig Alex Daniels. Sie trug eines seiner T-Shirts, hatte den grauen Rock bis über die Hüften hochgezogen – und urinierte ins Becken.
    Erschrocken warf Darwin die Tür zu und taumelte von ihr fort, bis er mit dem Rücken gegen eine Wand stieß. Obwohl seine Augen weit aufgerissen waren, sah er nichts. In seinem Kopf war gerade ein UFO gecrasht, und der dabei aufgewirbelte Staub raubte seinem Bewusstsein die Sicht. Schreckensbleich wartete er darauf, dass der Nebel sich lichtete und das Alien erschien. Später hatte Darwin nie sagen können, wie viel Zeit vergangen war, bis sich sein Gast endlich aus dem Badezimmer hinauswagte.
    Er stand immer noch reglos mit dem Rücken zur Wand. Aus glasigen Augen glotzte er auf die blasse Gestalt in der Badezimmertür. Sein Blick wanderte von ihrem Scheitel bis zur Sohle und wieder zurück. Daniels’ Miene war ausdruckslos. Eine in Marmor gemeißelte Maske. Wie das abgesprengte Gesicht des Hermaphroditen aus dem Louvre.
    »Haben Sie noch nie einen Kerl pinkeln sehen?«, fragte sie unvermittelt. Nie war Darwin ihre Stimme so tief erschienen. Und dennoch so kalt.
    Seine ganze Reaktion bestand darin, auf die Brüste seines Gegenübers zu starren, die sich unter seinem T-Shirt abzeichneten, für einen »Kerl« entschieden zu prall. Wieder träufelte Daniels ihren ätzenden Zynismus in die peinliche Stille.
    »Falls Sie gerade über das nachdenken, was ich vermute, lautet die Antwort: Ja.«
    Allmählich kam Darwin wieder zu sich und stammelte: »W-wie bitte?«
    »Der Busen ist echt.«
    Er breitete die Hände aus, schüttelte den Kopf, öffnete die Lippen und suchte verzweifelt nach Worten. »Ich… ich konnte ja nicht…«
    »Hat Detective Longfellow Ihnen nichts verraten. Bei einem hübschen Bierchen, so als Schauergeschichte unter Kameraden?«
    Darwin schüttelte entschieden den Kopf. Er fühlte sich wie ein Angeklagter, wusste aber nicht warum. »Wie kommen Sie darauf?«
    »Wegen dem Monsterding.«
    »W-was?«
    »Er hat mich genauso angesehen wie Sie.«
    »Aber ich wusste wirklich nichts…«
    »Das nehme ich Ihnen sogar ab. Sonst hätte Ihr Taktgefühl Ihnen bei unserem ersten Treffen im Gefängnis vermutlich verboten, Hermaphroditen als Missgeburten zu bezeichnen.«
    Darwin glaubte die Bitterkeit schmecken zu können, die Daniels’ Stimme wie ein Zerstäuber im Flur verteilte. Schon bei früheren Begegnungen hatte er das Odeur ihres Zorn eingeatmet, allerdings nie in so konzentrierter Form. Jetzt fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Ihre Zurückgezogenheit, die extreme Scheu vor körperlicher Berührung, der Widerwillen, sich vor dem Notarzt zu entblößen, sogar das Herumgeschraube an ihrem aufgemotzten Cabriolet – vieles, das Darwin zuvor nicht verstanden hatte, bekam plötzlich für ihn einen Sinn.
    Alex Daniels lief zur Garderobe und nahm ihre Lederjacke vom Haken. Ohne sich zu Darwin umzudrehen, sagte sie: »Würden Sie mich jetzt bitte zu Ihrer Schwester fahren?«

 
    Kapitel 9
     
     
     
    »Verstehen kann man das Leben nur rückwärts. Leben muss man es vorwärts.«
    S ø ren Kierkegaard
     
     
    LONDON (ENGLAND),
    Freitag, 5. Oktober, 20.28 Uhr
     
    Das Monsterding. Als Alex den Blick bei Darwin Shaw bemerkt hatte, war bei ihr eine Jalousie runtergefallen. Schon als er die Badezimmertür aufgerissen und sie beim Pinkeln erwischt hatte, deutete sich das Verhängnis an. Aber dann das Monsterding – Alex hatte während ihrer Pubertät in zu viele glotzende Gesichter geschaut, die sich an ihren Genitalien ergötzten. Noch im letzten Jahrhundert waren Menschen wie sie als Kuriositäten auf Jahrmärkten ausgestellt worden.
    Um so überraschender gestaltete sich für sie die Begegnung mit Lucy. Der Umzug in die benachbarte Copperfield Street war eine sehr stille Aktion gewesen. Shaw hatte sich in betretenes Schweigen gehüllt. Als seine Schwester die Tür des Reihenhauses öffnete, das eigentlich seiner Mutter und dem Stiefvater gehörte, lief er stumm an ihr vorbei, geradewegs in die Küche. Einen Moment lang sahen sich Lucy und Alex mit großen Augen

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