Die Galerie der Lügen
sind männliche Geschlechtshormone. Sie sorgen normalerweise dafür, dass aus einem Kind mit X Y-Chromosomen auch ein Junge wird.«
»Heißt das, es gibt auch XY-Menschen, die Frauen sind?«
»Genau so nennen sie sich: XY-Frauen. Aber wie gesagt, bei mir hat die Resistenz nicht alle Sexualhormone ausgesperrt und offenbar auch nicht von Anfang meiner Entwicklung an, sondern sie lässt einen ganz bestimmten Cocktail durch.«
»Und deshalb ist die äußere Haut deiner Zwiebel eher weiblich als männlich?«
»Jetzt hast du’s begriffen.«
»Darwin hatte Recht, als er sagte, dass du nett bist. Ich finde sogar, du bist richtig toll, Alex.«
Der so Gelobten verschlug es die Sprache. Bei Lucy wirkte alles so echt. Natürlich weckte das Außergewöhnliche ihre Neugierde, aber es vernebelte nicht ihre Sicht auf den Menschen hinter der exotischen Schale. Sie besaß die seltene Gabe, einfach zuzuhören, ohne dumme Sprüche zu machen, brachte nicht jede Minute eine Definition zu dem Gehörten und versuchte nicht alles mit vorgefassten Meinungen oder Bildern in Deckung zu bringen.
Alex holte tief Luft und erwiderte: »Nein, du bist toll, Lucy.«
Kapitel 10
»Um klar zu sehen, genügt oft ein Wechsel der Blickrichtung.«
Antoine de Saint-Exupery
MÜNCHEN (DEUTSCHLAND),
Sonntag, 7. Oktober, 21.53 Uhr
Das Rundschreiben von ArtCare erzielte bei den Verantwortlichen in Museen und Galerien in etwa die gleiche Resonanz wie die Warnhinweise auf Zigarettenschachteln: Jeder weiß, dass Rauchen mit nicht geringer Wahrscheinlichkeit zum Tode führt, aber die meisten gehen davon aus, es dem Großvater nachzutun, der trotz seiner Zigarren hundert geworden ist. Warum sollen sich die Diebe ausgerechnet unser Museum aussuchen? Sicher, es gab in den meisten Ausstellungen schöner Künste eine erhöhte Alarmbereitschaft, aber die war eher pro forma. Überstunden kosten Geld, und daran mangelt es fast jedem Museum der Welt.
Das war bei der Alten Pinakothek in München kaum anders. Timo Hollermeier arbeitete erst seit sieben Tagen in der Galerie. Er war vierundzwanzig und der klassische Museumsbau einhunderteinundachtzig. Machte zusammen zweihundertfünf Jahre. Hollermeier war eine bayerische Frohnatur, ständig auf der Jagd nach Punkten beim weiblichen Geschlecht. An freien Abenden polierte er in seinem Stammlokal, dem Alten Simpl in der Türkenstraße, regelmäßig an seinem Image. Wenn er dort beim Weißbier einem feschen Madl imponieren wollte, brauchte er neuerdings nur zu erwähnen, dass er für die Sicherheit von Rubens, Botticelli, Tintoretto, Tizian und natürlich Leonardo da Vinci sorge. Seine Bewunderinnen hielten ihn dann gemeinhin für einen Bodyguard. Wenngleich ihnen die meisten Namen nichts sagten, wusste beim letzten doch jede, dass er einem italienischen Modedesigner gehörte.
Während Hollermeier mit seiner Vespa in die Barer Straße 27 zur Nachtschicht fuhr, war er gedanklich schon beim Dienstende. Morgen würde er faulenzen dürfen – das Museum hatte montags geschlossen. Die nächsten achteinhalb Stunden versprachen jedoch noch einmal quälende Langeweile.
Vom Generaldirektor war Fernsehverbot ausgesprochen worden, was Hollermeier die Vorfreude auf den Wochenausklang einigermaßen verhagelt hatte. Die nächtlichen Sendungen bei den Kommerziellen waren das ideale Ergänzungsprogramm zum erotisierenden Anschauungsmaterial im Museum. So schnell schlief da keiner ein. Aber jetzt galt erhöhte Alarmbereitschaft. Sogar die Männer, die bloß im Kontrollraum herumhängen mussten, sollten sich durch nichts von ihren Überwachungsmonitoren ablenken lassen. Die Museumsleitung tat alles, um ein Debakel wie im Louvre oder erst letztens in der Londoner National Gallery zu verhindern. Um die dunklen Wolken, die Hollermeiers sonniges Gemüt verfinsterten, scherte sich keiner.
Gemessen an der Sorglosigkeit, die weithin herrschte, hatte man in der Alten Pinakothek also viel getan. Es gab sogar ein Zusatzaufgebot an Sicherheitskräften: zwei Kollegen. Sie hatten ihren freien Tag opfern müssen. Mehr war nicht drin. Der »Verein zur Förderung der Alten und Neuen Pinakothek München e. V.« mühte sich schließlich nicht so ab, um Truppenaufmärsche zu finanzieren. Die Ergänzung der Sammlung war oberstes Ziel. In der Satzung stand nichts über die Verhütung außerplanmäßiger Abgänge.
Daher das Fernsehverbot. Es kostete ja nichts.
Timo Hollermeier traf pünktlich zum Dienstbeginn im Kontrollraum
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