Die Galerie der Lügen
Schlange. Schwester von Sphinx.« Die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen.
»Okay, aber der Begriff wird doch oft im übertragenen Sinn benutzt.«
»Klar. In der Art wie: Du jagst einer Chimäre nach – einem Trugbild oder Hirngespinst.«
Er sah Becky mit offenem Mund an. Ihre Worte hatten ihn wie ein Tadel getroffen, obwohl sie gewiss nicht so gemeint waren. Jage ich einer Chimäre nach?
»War das alles?«, fragte Becky.
Er blinzelte. »Wenn sich dein Wissen über die Fabelwesen darauf beschränkt, dann ja.«
»Wie wär’s, wenn du mal im Lexikon nachschlägst? Oder im Internet.«
»Werde ich bei Gelegenheit tun. Und das mit den Zeitungen war nicht so gemeint. Danke, Becky.«
Ihre rehbraunen Augen funkelten amüsiert. »Schon in Ordnung. Ich weiß ja, dass du mächtig unter Dampf stehst. Also dann…« Sie verließ den Raum.
Darwins Blick wanderte zu den Zeitungen auf dem Sideboard. Einen Moment lang starrte er sie finster an. Dann erlag er der Versuchung und schnappte sich die Times.
Die ehrwürdige Institution der britischen Presse hatte viel von ihrer zurückhaltenden Distinguiertheit verloren. Zu diesem Schluss gelangte er, nachdem er den Schmähartikel auf Alex Daniels’ »Galerie der Lügen« gelesen hatte.
Wie erwartet, gingen die zu Wort kommenden Wissenschaftler einer argumentativen Auseinandersetzung mit ihrer Gegnerin aus dem Weg. Ein Biologe verteidigte die diffamierende Polemik sogar. Die Kreationisten täten schließlich auch nichts anderes, behauptete er. Wenn sie die Keule wählten, dann müsse man mit der Keule zurückschlagen – obwohl ihm das Florett natürlich lieber sei. Im Übrigen würde auch kein Astrogeologe ernsthaft mit einem Kind darüber debattieren, ob der Mars aus Cheddarkäse bestehe. Als Krönung der Infamie empfand Darwin jedoch den Angriff auf ihn, den Versicherungsdetektiv von ArtCare, der, so das Blatt, »sich mit infantiler Einfältigkeit von den Kreationisten instrumentalisieren« lasse.
Wütend warf er die Zeitung auf den Schrank zurück. Er hätte besser daran getan, sie nicht anzufassen.
Für die nächsten etwa anderthalb Stunden widmete er sich seinen Reisevorbereitungen – Reena Baker hatte persönlich für ihn einen British-Airways-Flug um vier Uhr nachmittags nach Amsterdam gebucht. Er telefonierte mehrmals mit Lucy – von Alex fehlte nach wie vor jedes Lebenszeichen. Und er grübelte.
Ihn beschlich das unangenehme Gefühl, etwas Wichtiges übersehen zu haben.
Mit geschlossenen Augen, die Füße auf dem Tisch, im Stuhl weit nach hinten gelehnt spulte er die letzten Stunden, Tage und Wochen immer wieder zurück und wieder vor. Plötzlich riss er die Augen auf und flüsterte einen Namen.
»Kevin!«
Warum war ihm das nicht früher aufgefallen? Als Alex ihm von ihren eigenen Ermittlungen in Sachen Terri Lovecraft und von dem dramatischen Anschlag im Greenwich Park erzählt hatte, war mehrmals von einem Kevin die Rede gewesen. Und er hatte nicht geschaltet.
Vermutlich, weil Kevin T. Kendish tot war, angeblich in der Karibik verstorben.
»T?«, flüsterte er. Eine unheimliche Ahnung tauchte wie ein riesiger Schatten am Horizont seines Bewusstseins auf. Er griff zum Telefon und wählte die Nummer von Detective Superintendent Mortimer Longfellow. Darwin kam sofort zur Sache.
»Mortimer, Sie wollten doch Julian Kendish, den Oberkontrolleur von ArtCare, durchleuchten. Wie weit sind Sie gekommen? «
»Nichts Aufregendes.« Darwin hörte Papierrascheln. »Er hat fast sein ganzes Berufsleben für verschiedene Unternehmen des MacKane-Konzerns gearbeitet. Zuletzt ist er bei euch gelandet.«
»War er irgendwann in Schottland tätig.«
»Woher wissen Sie das?«
Darwin atmete tief durch. »Wie hieß die Firma?«
»Tja, das ist seltsam. Wir konnten den Namen nicht herausfinden. Er wurde aus allen Unterlagen getilgt.«
Darwin erinnerte sich, auch in Kendishs Personalakte keinen Eintrag über eine schottische Tochterfirma des Konzerns gefunden zu haben. »Andere Frage: Julians Sohn, Kevin T. Kendish. Wofür steht das › T ‹ in der Mitte?«
»Warten Sie?« Wieder hörte Darwin das Geräusch umblätternder Seiten. Dann: »Hier, ich hab’s. Sein vollständiger Name lautete Kevin Theodore Kendish.«
Für eine lange Schrecksekunde balancierte Darwin in gefährlicher Schräglage auf seinem Bürostuhl. Irgendwie schaffte er es dann aber doch, sein Gleichgewicht zurückzugewinnen. Um einem Absturz vorzubeugen, nahm er die Beine vom Tisch.
»Nur, damit
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