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Die Galerie der Lügen

Titel: Die Galerie der Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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auf der Piazza della Signoria Wind, Sonne und Regen getrotzt. Die Stadtväter im Palazzo Vecchio hatten ihn dort als Symbol einer Republik postiert, die sich gegen mächtige Feinde behaupten musste – hauptsächlich Mailand, Neapel und Venedig. Um ihn zu schützen, wurde er dann gegen eine Kopie ausgetauscht, die immer noch an selber Stelle vor dem Rathaus steht. Dem Original hat man hier diese Apsis gebaut – die Tribuna del David – und dazu einen neuen Sockel spendiert.«
    Das Paar kam in einigem Abstand zur Figur zum Stehen. Nur eine gläserne Brustwehr trennte sie von dem beeindruckendsten Kunstwerk, dass der Besucher aus England je gesehen hatte. Jetzt konnte er endlich die wahre Größe von Il Gigante ermessen. Ein normaler Italiener sah den Riesen etwa aus Höhe der Fußknöchel, Darwin reichte nur wenig weiter hinauf.
    »Der Marmor wirkt fast makellos«, wunderte er sich. »Man könnte glauben, Michelangelo habe die Figur erst vor wenigen Jahren aus dem Stein geschlagen.«
    »Sie wurde vor drei Jahren restauriert«, erwiderte Franca, danach überließ sie ihn seinem atemlosen Staunen; nur ab und zu fütterte sie ihn mit einigen erhellenden Details.
    Die Statue ruhte auf einer Plinthe – einer rechteckigen Steinplatte mit der Oberfläche eines stilisierten Felsens – und diese wiederum auf dem Sockel. Dadurch wuchs der Koloss noch höher über den Betrachter hinaus, der sich im direkten Vergleich wahrhaft wie ein Zwerg vorkam.
    Fotografien von Michelangelos Meisterwerk konnten nicht einmal ansatzweise die gleichen Gefühle wecken, die Darwin in diesem Moment empfand. Nackt, athletisch, ebenso kraftvoll wie sinnlich stand der David da – die klassische Haltung des Kontrapost, erläuterte Franca: fest gefügtes Standbein und lockeres Spielbein, eine Synthese der ruhenden und treibenden Kräfte, wie sie der Meister von antiken Vorbildern übernommen habe. Das linke Schwungbein war gebeugt, die Ferse leicht erhoben, was die Dynamik einer gerade ausgeführten Bewegung suggerierte. Mit der Linken hielt der Hirte, von vorne kaum zu erkennen, die Schleuder, seine einzige Waffe im Kampf gegen den Riesen Goliath. Wie die Handstellung der Rechten vermuten ließ, hielt der biblische Held darin spielerisch, ja ungeduldig, den dazugehörigen Stein, welcher aber nicht zu sehen war.
    Schon das Gesicht allein löste in Darwin Ergriffenheit aus. Es verriet Ernst, Argwohn, Wachsamkeit, auch die Bereitschaft, dem hünenhaften Gegner entgegenzutreten, aber weder Furcht noch eine hochfahrende Siegerpose. Ein bescheidener Streiter für Israel, der seinem Gott die Ehre gibt. Der Hirte mit der Steinschleuder schaute, leicht von oben, nach links, worin sich, wie Franca anmerkte, der mittelalterliche Glauben ausdrücken mochte, die rechte Seite eines Menschen werde von Gott beschützt, während die linke dem Bösen ausgesetzt sei. Die Haltung der Figur insgesamt symbolisiere Kraft und gerechten Zorn, Eigenschaften die während der Renaissance als Tugenden galten. Augenscheinlich habe der Künstler großen Wert auf eine naturalistische Darstellung gelegt, was der Figur ihre besondere Ausdrucksstärke verleihe.
    Ja, dachte Darwin, die hat dieser Gigant. Nun erst verstand er Cadwells Entsetzen, nachdem dieser vom Plan des »Gehirns« erfahren hatte. Diese Figur wirkte vollkommen. Jeder einzelne Muskel und jede Sehne waren zu erkennen. An den Händen konnte man sogar deutlich die hervortretenden Adern sehen. Sie war perfekt. Und dennoch…
    »Ich hörte, die Proportionen des David seien nicht ganz stimmig«, sagte Darwin leise.
    »Darüber gehen die Meinungen stark auseinander«, antwortete Franca. »Aber wenn ein Meister etwas erschafft, dann finden sich immer Neider, die an seinem Werk herummäkeln. Es gibt eine nette Anekdote über Michelangelo und Piero Soderini, den Gonfaloniere der Stadt Florenz.«
    »Was, bitte schön, ist ein Gonfa-…?«
    »Der Gonfaloniere di Giustizia war der › Bannerträger der Gerechtigkeit ‹ – wenn Sie wollen, das Staatsoberhaupt von Florenz.«
    »Der Boss.«
    Franca lächelte. »Si. Der Boss äußerte also gegenüber Michelangelo, nachdem er ihm mit einigen lobenden Bemerkungen fachmännische Kritik vorgespiegelt hatte, die Nase der Figur erscheine ihm zu dick. Darauf soll der Meister schnell einen Meißel in die Linke und von den Brettern des Gerüsts ein wenig Marmorstaub genommen haben, um sodann mit dem Werkzeug über dem beanstandeten Körperteil leise in seiner pulvergefüllten Hand

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