Die Galerie der Lügen
des »kleinen Korporals« traf – so nannte er il comandante insgeheim, weil dieser ihn in Statur und Aussehen irgendwie an Napoleon Bonaparte erinnerte.
Darwin teilte mit seinem Chef, mit Inter- und Europol sowie mit den nationalen Polizeibehörden die Auffassung, einer Ergreifung des Serientäters und seiner Komplizen müsse oberste Priorität eingeräumt werden. Es hätte Mittel und Wege gegeben, den David zu schützen, aber dem »Gehirn« trotzdem eine Falle zu stellen. Davon wollte der kleine Korporal jedoch nichts hören. Wenn sein britischer Kollege an Wunder glaube, hatte er mit einem kleinen überheblichen Lächeln bemerkt, dann solle er mit derart irdischen Nebensächlichkeiten keine Schwierigkeiten haben.
Immerhin gestattete man Darwin in seiner Eigenschaft als ArtCare-Repräsentant, sich im selben Raum aufzuhalten wie der David. War das angesichts der Ressentiments auf Seiten der Verantwortlichen nicht auch schon ein kleines Wunder?
Kurz nach Schließung der Galleria dell’Accademia war Al es sandro Mello zu Darwin gekommen und hatte ihm verstohlen eine Plastiktüte zugesteckt.
»Nehmen Sie das«, hatte er gesagt. Sein Englisch klang immer etwas schroff.
Darwin reagierte überrascht. »Ein Snack für die lange Wache?«
»Reden Sie keinen Unsinn. Da ist ein Walkie-Talkie drin, eine Taschenlampe und eine Beretta, Model 92 FS. Ich nehme an, Sie können damit umgehen.«
»Eine Pistole? Sie kennen doch Dr. Marinellis Meinung zur Artillerie im Museum.«
»Ja«, schnaubte Mello. »Sie ist eine Frau.«
»Was hat das damit…?«
»Nehmen Sie das Ding schon!«, polterte Mello, um sich sogleich nach der Direktorin umzusehen. Raunend setzte er hinzu: »Oder sind Sie sich für eine italienische Waffe zu fein?«
»Als Versicherungsdetektiv kommt man selten in die Verlegenheit, eine Pistole zu benutzen.«
»Jetzt hören Sie endlich auf, sich zu zieren, Shaw. Bei der Militärpolizei werden Sie auch nicht mit Wattebäuschchen um sich geworfen haben.«
Widerstrebend hatte Darwin das knisternde Paket entgegengenommen.
Inzwischen waren fast drei Stunden vergangen.
Eine unheimliche Stille erfüllte die Galleria dei Prigioni. Darwin schätzte die Länge des Raumes auf ungefähr dreißig Yards, seine Höhe auf sieben oder acht. Im Verhältnis zu anderen Sälen der Galerie, die mit Skulpturen oder Gemälden regelrecht voll gestopft waren, herrschte hier eine geradezu beängstigende Leere. Diese verstärkte die klaustrophobische Wirkung der Meisterwerke nur noch. Jetzt, wo Darwins Fantasie nicht von der Gegenwart anderer Besucher abgelenkt wurde, schienen die im Stein eingeschlossenen Gestalten zu erwachen. Sie bewegten sich nicht, aber es sah aus, als versuchten sie es.
Um sich dem beklemmenden Zauber der gequälten Kreaturen zu entziehen, schritt er vor zum Gigant. Das letzte Viertel der Galerie diente der Tribuna del David gewissermaßen als Entree. Zwei bogenförmige Joche ruhten auf Wandpfeilern und ihnen vorgelagerten schlichten grauen Säulen. Diagonale Grate verbanden diese Widerlager unter der gewölbten Decke. Darwin konzentrierte seine Aufmerksamkeit jedoch auf das schlichte Rautenmuster der roten Fußbodenplatten, um sich von der Pietà Palestrina, die rechts zwischen den Säulen stand, nicht erneut bannen zu lassen. Als er unversehens am Rande des Gesichtsfeldes einen hellen Fleck bemerkte, wandte er aber doch den Kopf.
Es waren nur einige von einer Heftklammer zusammengehaltene Papierbogen. Darwin erkannte das aufgedruckte Logo der Carabinieri wieder und verdrehte die Augen. In seiner Jackentasche steckte das gleiche Pamphlet. Es handelte sich um Comandante Mellos Einsatzplan. Auf Italienisch. Darwin widerstand der Versuchung, sich als Müllmann zu betätigen, und widmete sich stattdessen lieber der Betrachtung des David.
Der Fußboden unter der Kuppel war deutlich kunstvoller gestaltet als jener in der Galerie. Graue Ornamente aus geraden und geschwungenen Linien zogen sich durch den roten Grund. Der einsame Museumsbesucher verharrte in respektvollem Abstand vor jener Figur, die Franca Marinelli eine Verkörperung des menschlichen Idealbildes genannt hatte. Il Gigante ignorierte den Zwerg, sah einfach an ihm vorbei. Darwin fragte sich, was wirklich im Kopf des »Gehirns« vor sich ging. Würde es tatsächlich so weit gehen, dieses einmalige Meisterwerk zu zerstören? Und wenn ja, warum? Wollte es damit lediglich gegen jene Wissenschaftler protestieren, die sich an die Stelle Gottes gesetzt
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