Die Galerie der Lügen
hatten? Oder steckte mehr dahinter?
Das blasse Gesicht von Alex erschien vor seinem inneren Auge. Sie war der Schlüssel zu allen Fragen, die ihn im Moment beschäftigten. Ihm fielen die Worte aus Shakespeares Sonett ein, die sie einmal rezitiert hatte.
Von schönsten Wesen heischen wir Vermehrung,
Auf dass der Schönheit Rose nie vergeh’.
Alex hätte jedes andere Gedicht wählen können, um ihm die immaterielle Seite des Universums zu vergegenwärtigen. Es musste einen Grund geben, warum sie aus den zahlreichen Versen des Dichters ausgerechnet diese beiden Zeilen ausgewählt hatte. Kannte sie schon damals Theos Ansichten zum Thema Vollkommenheit? Sah sie in der von Shakespeare beschworenen Vermehrung der schönsten Wesen einen Hinweis auf ihr eigenes Geschick wie auch auf das ihrer im Reagenzglas erzeugten Geschwister?
Eine Äußerung von Comandante Mello drängte sich unsanft in Darwins Überlegungen. Zwei Carabinieri hatten Alex gerade in ihr Auto gesetzt und waren in Richtung Hotel entschwunden, als der kleine Korporal zu ihm trat und etwas sagte, das zur Saat der Zweifel, die vor Tagen Mortimer Longfellow ausgebracht hatte, weitere Samenkörnchen hinzufügte.
»Schon komisch«, knurrte der Einsatzleiter, »dass Ihre Freundin ausgerechnet jetzt ihre Migräne bekommt.«
Mehr hatte Mello nicht gesagt, aber seine Worte setzen in Darwins Kopf eine ächzende und knirschende Gedankenmaschinerie in Gang. Könnte Alex’ Anfall nur gespielt gewesen sein? Was hatte Theo mit ihr in seinem Landhaus angestellt? Was hatte er ihr erzählt? Was von ihr verlangt… ?
Darwin kniff die Augen zusammen und schüttelte ärgerlich den Kopf. Lass dich nicht kirre machen!
Als er sie wieder öffnete, war es dunkel um ihn herum.
Von der jähen Blindheit überrascht, zuckte er zusammen. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken. Das war kein gewöhnlicher Stromausfall, so viel sagte ihm sein Instinkt.
Rasch lief er in die »Galerie der Gefangenen« zurück, um aus dem Fenster zu sehen. Gleichzeitig versuchte er über Sprechfunk Alessandro Mello zu erreichen. Es gelang ihm nicht.
Der Hof des Museums war stockfinster. Also mussten im ganzen Gebäude die Lichter ausgegangen sein.
Er drückte abermals die Taste am Walkie-Talkie, aber wieder drang nur ein starkes Rauschen aus dem Gerät. Darwin wusste, wie es sich anhörte, wenn eine Funkfrequenz von einem Störsender überlagert wurde.
»Es geht los!«, flüstert er und griff nach seiner Pistole.
Kapitel 21
»Erfahrungen sind Wegweiser – keine Lagerplätze.«
George Bernard Shaw
FLORENZ (ITALIEN),
Sonntag, 21. Oktober, 21.26 Uhr
Das Hotelzimmer glich einem Karussell, in dessen Zentrum das Doppelbett stand. Immer wenn Alex die Augen öffnete, sah sie den rotbraunen Schrank vorüberziehen oder den Schreibtisch oder andere Einrichtungsgegenstände – das Baglioni geizte nicht mit Komfort.
»Wenn das Leben sich immer schneller um einen dreht, dann ist es um so wichtiger, still stehen zu bleiben«, murmelte sie. Nie hatte sie den Sinnspruch ihrer Mutter buchstäblicher verstanden.
Seit sie von den beiden Carabinieri vor ihrem Hotelzimmer abgesetzt worden war, wiederholte sich in ihrem Geist immer wieder die dramatische Episode in der Galleria dell’Accademia: das Betreten des Gebäudes, der brennende Schmerz im Kopf, die Ohnmacht, das Erwachen… Irgendetwas stimmte nicht.
Sie hatte ja nicht zum ersten Mal einen Metalldetektor durchquert. Zwar besaß sie ein ärztliches Attest, das ihr die unangenehme Prozedur an Flughäfen gewöhnlich ersparte, in manchen Gebäuden nahmen die Sicherheitskräfte jedoch nicht so viel Rücksicht. Aber nie hatte sie auf die Geräte so heftig reagiert.
Woher war das elektromagnetische Feld gekommen, das sie nach Abschaltung des Metalldetektors immer noch gespürt hatte, bis es urplötzlich verschwand? Vor ihrem Auge zogen noch einmal die Bilder des Erlebten vorbei: die Polizisten, die Spezialeinsatzkräfte in ihren kugelsicheren Westen, die Walkie-Talkies…
Sie fuhr aus dem Kopfkissen hoch und hauchte: »Das Funkgerät!«
Warum fiel ihr das jetzt erst ein. Irgendjemand jenseits ihres Gesichtskreises hatte versucht, den Notarzt zu rufen. Aber aus seinem Walkie-Talkie kam nur lautes Rauschen. Mit einem Mal war das elektromagnetische Feld verschwunden gewesen. Und danach konnte er wieder kommunizieren.
Theo musste einen Weg gefunden haben, um den Funkverkehr der Polizei zu
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