Die Galerie der Lügen
Shaw?«
»Ja?«
»Kann ich mir einen Zettel von Ihrem Block nehmen? Ich werde hier ziemlich kurz gehalten und möchte mir etwas notieren.«
»Zufällig ein Geständnis?«
»Nein. Nur eine Einsicht, die mir im Laufe unseres Gesprächs gekommen ist.«
»Meinetwegen können Sie den ganzen Block behalten. Ich habe sowieso nichts mitschreiben können.«
Er drückte den Knopf. Während er auf die Wärterin wartete, warf er einen Blick über die Schulter. Daniels hatte einen Zettel aus dem Block gerissen, ihn auf die harte Tischplatte gelegt und kritzelte mit seinem Kugelschreiber irgendetwas darauf. Anschließend faltete sie das Blatt zusammen, steckte es in die Gesäßtasche ihrer Jeans und beschäftigte sich wieder mit ihrem Haar.
Die Wärterin betrat den Raum. Ihre dunklen Augen lagen auf dem Hemdkragen des Versicherungsdetektivs, den nun keine Krawatte mehr zusammenhielt. Sie grinste. »Wie war das Schäferstündchen, hübscher junger Mann?«
Er zog eine Grimasse. »Sie hat mich abblitzen lassen.«
»Da kann man nichts machen. Ich übergebe die Gefangene kurz an meine Kollegin, dann hole ich Sie ab.«
»Ich warte.«
Daniels kam unaufgefordert zur Tür und ließ sich die Handschellen anlegen. Ehe die Wärterin sie abführte, sagte sie zu Darwin: »Denken Sie über meine Worte nach, Mr Shaw. Die Tür des Käfigs steht offen. Sie müssen Ihren Gedanken nur erlauben hin auszuflattern.«
Erst als die beiden Frauen aus dem Fenster der Tür verschwunden waren, wurde ihm bewusst, dass er sich nicht einmal verabschiedet hatte.
Fahrig sammelte er die immer noch am Boden liegenden Fotografien ein und warf sie zusammen mit dem Schlips in seine Ledertasche. Dieser geheimnisvollen Ms Daniels war es mit wenigen verwirrenden Äußerungen gelungen, sein Gleichgewicht zu stören. Das ärgerte ihn. Was ihn aber mehr als alles andere wurmte, war ihr erstaunliches Gespür für den Hauptschwachpunkt seiner Argumentation.
Als hätte sie von der Sache gewusst.
Es existierte tatsächlich ein zweiter Satz Fingerabdrücke, der mit denen vom Louvre übereinstimmte. Das waren die »neuen daktyloskopischen Erkenntnisse im Hermaphroditen-Fall«, von denen Mortimer gesprochen hatte. Eigentlich sollte er sich darüber nicht weiter den Kopfzerbrechen. Die andere Person schied als Verdächtige aus, weil sie vor dem Louvre-Einbruch auf tragische Weise ums Leben gekommen war. Wie hieß die Ärmste doch gleich? Hatte Mortimer sie Jessica genannt? Merrilee? Mary…? Nein! Mit einem Mal war der Name wieder da. Terri Lovecraft.
Kapitel 5
»In der Mitte von Schwierigkeiten liegen die Möglichkeiten.«
Albert Einstein
LONDON (ENGLAND),
Mittwoch, 26. September, 18.51 Uhr
Die Gefängniszelle war nicht länger das Loch, in das man ihre Freiheit geworfen hatte, stattdessen begrüßte Alex sie als einen sicheren Hort. Als hinter ihr die Tür ins Schloss fiel, fühlte sie sich erleichtert. Aber auch erschöpft. Ohne das Internet, eine Telefonleitung oder das gute alte Briefpapier als abschirmenden Puffer laugten zwischenmenschliche Kontakte sie immer aus. Das Gespräch mit Shaw jedoch hatte mehr angerichtet. Bis zum Hals hinauf schlug ihr Herz. Den Tränen nahe, warf sie sich auf die Liege, zog ihre Decke bis über den Kopf und drückte das Gesicht so fest ins Kissen, dass sie kaum mehr atmen konnte.
Hatte sie dem Ermittler zu viel von sich preisgegeben? Sie wusste nicht, was sie mehr aufgewühlt hatte, das Bild von dem Hermaphroditen oder Shaws Bemerkung über die »Missgeburten«.
Dieser Mann konnte ihr gefährlich werden. Auf vielerlei Weise. Er war wie ein Magnet, der ihren Kompass durcheinander brachte. Schon als sie in den Besucherraum gekommen war, hatte sie es gespürt – viel stärker als die Strahlung seiner elektronischen Gerätschaften. Warum hatte sie sich so darauf fixiert, ihm ihre Sicht des Universums begreiflich zu machen? Hätte es nicht genügt, ihm das Bild zu erklären, das sich beim Anblick der Fotografien in ihrem Kopf zusammengesetzt hatte?
Nein, beruhigte sie sich. Du hast genau das Richtige getan. Die Fotografien von den Kunstwerken haben Gedankenverbindungen ausgelöst, Vermutungen heraufbeschworen. Aber du kannst von all dem nichts beweisen. Außerdem hat Shaw kein Recht zu erfahren, wieso ausgerechnet du zu dieser Einsicht kommst, wo doch bestimmt Dutzende von Kriminalisten in ganz Europa an den Fällen arbeiten. Er hätte sich nur in seiner vorgefassten Meinung bestätigt gesehen:
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