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Die Galerie der Nachtigallen

Die Galerie der Nachtigallen

Titel: Die Galerie der Nachtigallen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Harding
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Lippen waren so üppig wie eine
Frühlingsrose. »Sir Thomas’ Witwe?« fragte
Cranston taktvoll.
    »Ja.« Ihre
Stimme wurde rauh. »Und Ihr, meine Herren? Was wollt Ihr
hier?«
    Cranston spähte
hinauf zu der Gruppe auf der Estrade, die immer noch stumm um den
Tisch saß, und zog trunken den Hut.
    »Sir John
Cranston, Coroner des Königs in der Stadt. Und das da«,
mit einer wedelnden Handbewegung deutete er hinter sich, »ist
mein getreuer Mephistopheles, Bruder Athelstan.«
    Die Frau wirkte
ratlos.
    »Mein
Schreiber«, erklärte Cranston mit schwerer Zunge.
»Madam«, unterbrach Athelstan, »der Herr schenke
Eurem Gemahl die ewige Ruhe, aber er ist tot, und Sir John und ich
haben Anweisung, den Leichnam zu untersuchen, um die Ursache des
Todes festzustellen. Wir bedauern, Euch in Eurem Schmerz
stören zu müssen.«
    Die Frau trat
näher, und Athelstan sah, wie bleich ihr Gesicht war; ihre
Augen waren rot vom Weinen. Er sah auch, daß die Manschetten
an den Ärmeln ihres schwarzen Spitzenkleides tränenfeucht
waren.
    Die Frau bedeutete
ihnen mit einer Handbewegung, auf die Estrade zu gehen, und die
Leute, die dort saßen, erhoben sich. Alle waren schwarz
gekleidet und schienen sich hinter einem breitschultrigen Mann zu
verstecken, glatt und fett, mit schütterem Haar und
fleischiger Nase, und mit Augen und einem Mund so hart wie
Stein.
    »Wer seid Ihr,
meine Herren?« erkundigte er sich barsch. »Ich bin Sir
Richard Springall, Bruder und Testamentsvollstrecker des
verstorbenen Sir Thomas.«
    Cranston und Athelstan
stellten sich vor.
    »Und warum seid
Ihr hier?«
    »Auf
Geheiß des Oberrichters.«
    Cranston zeigte seinen
Auftrag vor. Sir Richard öffnete das rote Seidenband,
entrollte das Pergament und überflog den Inhalt. Dann winkte
er mit großer Gebärde zum Tisch.
    »Ihr mögt
Euch immerhin zu uns setzen. Wir haben geschäftliche Dinge zu
erörtern. Sir Thomas’ Tod ist ein schwerer
Schlag.«
    Athelstan fand, Sir
Richard sehe eher wie ein eifriger Kaufmann denn wie ein trauernder
Bruder aus, aber sie nahmen Platz, und Sir Richard stellte die
übrigen Anwesenden vor. Am anderen Ende des Tisches saß
Pater Crispin, der Priester und Kaplan des Hauses Springall. Er war
ein junger Mann mit hagerem Gesicht, dunklen Augen und
glattrasierter Haut; er trug keine Tonsur, sein Haar fiel ihm in
Locken bis auf die Schultern. Sein dunkles Gewand war kostbar und
am Halse mit einer goldenen Spange und silberweißen Schleifen
gehalten. Ihm gegenüber saß Edmund Buckingham, Sir
Thomas’ Schreiber, etwa so alt wie Pater Crispin, aber
dunkler und mit gelblichem Gesicht, hartem Blick und schmalen
Lippen. Der geborene Schreiber oder Secretarius, ein Zähler
von Ballen und Tüchern, besser geeignet zum säuberlichen
Führen der Bücher und zum Ordnen von Pergamenten als zu
müßiger Konversation. Er trommelte laut mit den Fingern
auf dem Tisch und ließ spüren, daß er die
Störung für ungerechtfertigt hielt und sich darüber
ärgerte. Die beiden anderen Anwesenden, Allingham und Vechey,
waren typische Kaufleute in ihren dunklen Samtwämsern mit
goldenen Ketten und den Silberdrahtringen an den runden Fingern.
Stephen Allingham war groß und ungelenk; er hatte ein
pockennarbiges, mürrisches Gesicht und fettige rote Haare.
Seine vorstehenden Schneidezähne ließen ihn aussehen wie
ein erschrecktes Kaninchen; seine Finger, unter deren Nägeln
dick der Dreck saß, flatterten immer wieder zum Munde, als
wäre er bemüht, sich an irgend etwas zu erinnern.
Theobald Vechey war klein und dick; sein Gesicht war weiß und
sah aus wie gekneteter Teig, und seine Äuglein wirkten wie
kleine schwarze Knöpfe; seine Nase war ein bißchen
krumm, sein Mund säuerlich.
    Nachdem alle einander
vorgestellt worden waren, ließ Sir Richard Becher mit Sherry
herbeibringen.
    O Gott! betete
Athelstan. Nicht noch mehr!
    Sir John, dem die
Augenlider schon schwer wurden, strahlte ausgiebig. Ein Diener
brachte ein Tablett voller Becher. Sir John leerte den seinen in
einem geräuschvollen Zug und schaute dann mit gierigem Blick
auf Athelstans; seufzend nickte der Bruder. Sir John grinste und
trank auch den zweiten Becher leer, ganz unbeeindruckt von den
verblüfften Blicken der anderen. Athelstan packte seinen
Lederbeutel aus, strich das Pergament glatt und legte Federkiele
und das silberne Tintenhorn auf seinem Schreibtablett zurecht. Sir
John klatschte erfrischt in die Hände, stützte sich auf
den Tisch und sah Sir Richard an, der am Kopfende des

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