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Die Galerie der Nachtigallen

Die Galerie der Nachtigallen

Titel: Die Galerie der Nachtigallen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Harding
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Leichnam an.«
    Der Zwerg trippelte
hinüber, um ihnen den unerwarteten Zuwachs seiner greulichen
Sammlung zu zeigen. Er riß den Lumpen beiseite, und der Wind
erfaßte ihn und wehte ihn gegen einen der aufgespießten
Köpfe.
    »Untersuche du
ihn, Bruder«, flüsterte Cranston. »Mir ist
übel. Der Wein von gestern ...«
    Athelstan hockte sich
nieder. Vechey trug die Kleider vom Tag zuvor. Das sanfte Gesicht war
jetzt stärker aufgedunsen und schmutzig weiß. Die Augen
waren halb offen, die Lippen schlaff, und man sah zwei Reihen
schwärzlicher Zähne. Vechey schien ihn anzugrinsen und
mit dem Geheimnis seines Todes zu verhöhnen. Athelstan drehte
den Kopf zur Seite. Dabei blieb er mit dem Knie in seiner Kutte
hängen und verlor das Gleichgewicht. Ein seltsames Gefühl
durchfuhr ihn, als seine Hand den aufgetriebenen Bauch der Leiche
berührte, und er stellte fest, daß die Beine des Toten
naß waren. Er untersuchte die Einkerbung rund um Veclieys
Hals; sie sah ähnlich aus wie die von Brampton:
schwärzlich rot wie ein gespenstisches Halsband. Auch hier ein
dunkel geschwollener Bluterguß hinter dem linken Ohr. Er
hielt den Atem an und schnupperte an den Lippen des Toten. Nichts
als der faulige Modergeruch des Grabes. Er untersuchte die
Hände der Leiche. Keine Narben. Die Nägel sauber und
ordentlich, und ein bißchen kürzer als bei Brampton.
Keine Seilfaser, die darunter hängengeblieben wäre.
Athelstan sah den Zwerg an.
    »Wo ist die
Schlinge?«
    »Hab ich
weggeworfen«, erwiderte der Kerl triumphierend. »Ich
seh ihn, schneid ihn ab, mach die Schlinge auf- und da fällt
sie ins Wasser.« Seine Miene wurde ernst, sein Blick besorgt.
»Wieso, hätte ich das nicht tun
sollen?«
    »Ihr habt Eure
Sache gut gemacht, Robert«, sagte Athelstan ruhig.
»Sehr gut. Dann habt Ihr den Toten also
gefunden?«
    »Nein, meine
Kinder. Die haben gespielt, wo sie nicht sollten: bei den
Pfählen unter der Brücke. Ihr kennt doch die
hölzernen Schutzsperren vor den Brückenpfeilern?«
Er schüttelte den Kopf. »Es sind so viele. Neun Kinder
habe ich«, erklärte er. »Hätten eigentlich
zehn sein sollen, aber der Älteste hat sich betrunken und ist
in den Fluß gefallen.«
    Cranston starrte den
Zwerg an, fassungslos über so viel Potenz.
    »Und da habt Ihr
ihn abgeschnitten?« fragte er. »Woher wußtet Ihr,
daß es Vechey war?«
    »Ich fand
Münzen in seiner Tasche und ein Stück Pergament. Sein
Name stand drauf. Seiner und noch einer. Thomas ...« Er
schloß die Augen.
    »Thomas
Springall?«
    »Richtig. Seht,
ich hab’s hier. Da steht noch was.«
    Der kleine
Wächter des großen Tores wühlte in seiner Tasche
und förderte einen schmierigen Fetzen Pergament zutage. Zwei
Namen standen darauf: Theobald Vechey und Sir Thomas Springall.
Unter dem zweiten Namen stand, von gleicher Hand geschrieben:
Genesis 3,1 und Apokalypse 6,8.
    »Hier,
Mönch«, knurrte Cranston. »Du bist der Prediger.
Was hältst du davon?«
    »Erstens, Sir
John, wie ich immer wieder sage: Ich bin ein Ordensbruder und kein
Mönch. Zweitens: Zwar habe ich die Bibel studiert, aber ich
kann mich nicht an jeden Vers erinnern.«
    Cranston
griente.
    »War da sonst
noch was?«
    Das Männchen
hüpfte auf und nieder.
    »Ja, ein paar
Ringe und Münzen, aber die Leute des Sheriffs haben alles
mitgenommen. Ich habe einen meiner Jungen zum Rathaus gejagt, und
die haben Konstabler der Wache hergeschickt. Das muß
...« Er sog an seinem Finger. »Das muß kurz nach
Morgengrauen gewesen sein. Ich hörte, wie sie sagten, man habe
nach Euch geschickt.«
    »Na ...«
Sir John seufzte. »Dann haben wir eine Leiche und einen
Fetzen Papier, und die Konstabler des Sheriffs haben die Wertsachen
- das heißt, niemand wird sie je wiedersehen«,
fügte er bitter hinzu. Er schaute nach unten. »Der Mann
baumelte einfach so da? Er hatte die Hände frei?«
»O ja«, antwortete der kleine Mann. »Baumelte
einfach an einem der Balken, schaukelte frei wie ein Blatt im Wind.
Kommt, ich zeig’s Euch.«
    Er führte
Cranston und Athelstan die Treppe hinunter, vorbei an der
geschlossenen Kammertür, hinter der seine umfangreiche Brut
lärmte wie die heulenden Dämonen der Hölle. Sie
gingen durch das Torhaus zurück, stiegen über eine roh in
den Fels gehauene Treppe an der Flußböschung hinunter
und traten unter die Brücke.
    »Vorsicht!« schrie der
Zwerg.
    Die Themse
strömte hoch und wütend daher, und das Wasser leckte
gierig an ihren Füßen, als wollte es sie einfangen und
in seine

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