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Die Galerie der Nachtigallen

Die Galerie der Nachtigallen

Titel: Die Galerie der Nachtigallen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Harding
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allein weiß, was es
ist.«
    Athelstan wandte den
Blick ab. Er hatte gesprochen, fast ohne nachzudenken. Jetzt
ließ er sich den Besuch im Hause Springall am Tag zuvor noch
einmal durch den Kopf gehen. Ja, irgendwas stimmte dort nicht. Oh,
alles war in säuberlicher Ordnung. Springall war ermordet
worden, sein Mörder hatte Selbstmord begangen, und so war
alles hübsch unter Dach und Fach. Aber die Sache war zu klar,
zu eindeutig, und der Tod war anders. Er war gewalttätig,
beschwerlich, dreckig. Wo er hinkam, zog er eine blutige Spur wie
einen Schwanz hinter sich her.
    »Wißt Ihr
...«, begann er.
    »Was,
Bruder?« »Ach, ich muß nur an gestern im Hause
Springall denken. Ein merkwürdiger Haufen. Und die beiden
Todesfälle so ordentlich.« Er sah Cranston an.
»Das habt Ihr auch gemerkt, Sir John, oder? Alles war
präzise unterzeichnet, besiegelt und abgelegt - als
hätten wir es mit einer wohlvorbereiteten Maskerade zu tun
gehabt. Was meint Ihr?« Cranston setzte sich
wieder.
    »Das
gleiche«, sagte er. »Ich weiß, ich habe zuviel
getrunken; das tue ich immer. Aber es stimmt: Da war etwas zu
spüren in diesem Haus. Etwas Böses, eine Aura, klamme
Kühle trotz des Reichtums. Etwas, das nach meiner Seele griff.
Jemand dort verbirgt etwas. Natürlich weißt du«,
er lächelte, »daß sie die Söhne des Dives sind? Sie
müssen es sein. Irgendein Hexenzirkel oder Geheimbund - und
ich glaube, sie sind allesamt daran beteiligt. Hast du ihre
Gesichter gesehen, als ich die Frage stellte?« Cranston warf
den mächtigen Kopf in den Nacken und brüllte vor Lachen.
»O ja, und diese Dame Ermengilde - von der habe ich schon
gehört. Ein unangenehmes Stück - bösartig und giftig
wie eine Viper. Na«, er schlug sich aufs Knie, »wir
werden sehen.« Er stand auf und ging in die Küche.
Athelstan hörte Lady Maude vergnügt quieken. Der Coroner
kam grinsend zurück, rülpste einmal, und die beiden
gingen hinaus auf die Straße.
    Sie hatten die
Cheapside zur Hälfte hinter sich gebracht, als ein dünnes
Stimmchen rief: »Sir John! Sir John!«
    Sie blieben stehen.
Ein kleiner Junge kam gerannt; sein Gesicht war schmutzig, seine
Kleider zerrissen, und er war so außer Atem, daß er
kaum sprechen konnte. Sir John wich zurück, und Athelstan
lächelte: Cranston schien immer ein wenig Angst vor kleinen
Jungen zu haben - vielleicht eine Erinnerung aus der Kindheit, wo
der fette Cranston von den anderen erbarmungslos geneckt worden
sein mußte. Athelstan ließ sich vor dem Kleinen auf die
Knie nieder und ergriff die magere, knochige Hand.
    »Was
gibt’s, mein Junge?« fragte er sanft. »Was
möchtest du?«
    »Ich bringe
eine Nachricht vom Sheriff«,
keuchte der Junge. »Master Vechey ...« Er schloß
die Augen, um sich zu erinnern. »Master Vechey ist
erhängt unter der London Bridge gefunden worden. Der Sheriff
sagt, er hätte sich umgebracht. Die Leiche ist abgeschnitten
worden und liegt dort im Torhaus. Der Sheriff sendet seine Emp...
seine Emp...« »Seine Empfehlungen«, ergänzte
Athelstan.
    »Ja.« Der
Junge klappte die Augen auf. »Empfehlungen - und Sir John
soll sofort hingehen und den Leichnam
untersuchen.«
    Cranston stand hinter
Athelstan. Er stieß einen leisen Pfiff aus.
    »Wir hatten also
recht, Bruder.« Er warf dem Jungen eine Münze zu, und
der huschte davon. »Da ist Übles im Gange. Ein Mord
läßt sich erklären, ein Selbstmord begründen
— aber noch ein Selbstmord?« Sein fettes Gesicht
strahlte. »Ah, nein — Sir Richard mag aufgeblasen sein,
Lady Isabella frostig, und Dame Ermengilde soll ruhig ungeduldig
mit dem Stock auf den Boden klopfen: Vecheys Tod läßt
sich nicht einfach beiseite wischen. Hier ist Übles im Gange,
und du und ich, Athelstan, wir werden der Fährte wie zwei
brave Hunde folgen, bis wir unser Wild vor Augen haben. Komm! Die
Lebenden wollen vielleicht nicht mit uns sprechen, aber die Toten
warten.«
    Und ohne eine
Erfrischung auch nur zu erwähnen, watschelte Cranston die
Cheapside hinunter, und Athelstan marschierte hinter ihm her. Sie
drängten sich durch den morgendlichen Verkehr, zwischen
Mönchen und Ordensbrüdern, Hökern und Händlern
hindurch, ignorierten die Schreie und Rufe der Stadt und
bogen in die Fish Hill Street ein, die sie zur London Bridge
hinunterführte. Bei der Schänke >Zu den drei
Fässern< machten sie halt, überzeugten sich, daß
ihre Pferde gut untergebracht waren, und Cranston bezahlte die
Rechnung. Philomel war erfreut, seinen Herrn wiederzusehen, und
stieß

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