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Die Galerie der Nachtigallen

Die Galerie der Nachtigallen

Titel: Die Galerie der Nachtigallen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Harding
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ihn zärtlich mit dem Maul. Aber auf der
Straße zur Brücke herrschte wieder großes
Gedränge, und so beschlossen sie, die Pferde dortzulassen und
zu Fuß zu gehen.
    Am Torhaus vor der
Brücke blieb Cranston stehen und klopfte kräftig an die
eisenbeschlagene Tür. Nichts rührte sich, und so hob
Cranston einen herumliegenden Ziegelstein auf und hämmerte
abermals an die Tür. Endlich wurde geöffnet. Ein kleines
Wesen mit behaartem Gesicht, ein wahrer Kobold, erschien und
spähte erbost zu Sir John hoch.
    »Was wollt
Ihr?« brüllte der Zwerg. »Haut ab! Das Torhaus ist
auf Befehl des Königs geschlossen, bis der Coroner
kommt.«
    »Ich bin der
Coroner«, brüllte Cranston zurück. »Und wer,
Sir, seid Ihr?«
    »Robert
Burdon«, antwortete der Zwerg. Er rückte seinen Mantel
zurecht und schob den Daumen unter den breiten Ledergürtel wie
ein Ringkämpfer, der den Angriff seines Gegners erwartet. Sir
John kümmerte sich nicht weiter um ihn, sondern drängte
durch die Tür, aus der es ihnen klamm
entgegenwehte.
    »Wir sind hier,
um Master Vecheys Leiche zu untersuchen.« Der Zwerg rannte
vor Cranston her und sprang auf und ab. »Mein Name ist Robert
Burdon!« schrie er. »Ich bin der Konstabler dieses
Torturmes! Ich habe mein Amt unmittelbar vom
König!«
    »Das ist mir
schnuppe«, versetzte Cranston. »Und wenn Ihr es
unmittelbar vom Heiligen Vater hättet. Wo ist die
Leiche?«
    Er spähte in die
kleine Kammer an der Treppe, wo das Männchen vermutlich
aß, wohnte und schlief. Ein kleines Kind kroch auf
Händen und Knien heraus, das Gesicht von Dreck verschmiert.
Der Zwerg hob es auf, setzte es zurück in die Kammer und
schlug die Tür zu.
    »Die Leiche ist
oben«, verkündete er wichtigtuerisch. »Was hat Ihr
erwartet? Ich kann sie ja nicht hier unten behalten, bei Weib und
Kindern. Die wird bald anfangen zu stinken.« Er deutete mit
dem Daumen nach oben. »Der Tote ist auf dem Dach. Hinauf mit
Euch!« Und behende wie ein Äffchen hüpfte er vor
Cranston und Athelstan die Treppe hinauf. Oben angekommen,
stieß er die Tür auf und führte sie hinaus auf das
Dach, eine geräumige, ebene Fläche, von hohen Zinnen
umgeben. Der Wind blies vom Fluß her und peitschte ihnen ins
Gesicht. Cranston und Athelstan hielten sich die Nase zu, so
schrecklich war der Gestank, der herauf getragen wurde.
    »Um Gottes
willen!« rief Cranston, als er sich umsah. Vecheys Leichnam
lag in der Mitte des Turmdaches neben einer wackligen Hütte,
die früher dem Wachtposten als Unterstand gedient hatte. Die
Leiche lag ausgestreckt am Boden, und das Gesicht war mit einem
schmutzigen Lumpen zugedeckt. Athelstan glaubte zunächst, der
Gestank käme von dort, aber als er sich umschaute, sah er die
verwesenden Köpfe, die in den Lücken zwischen den Zinnen
auf spitze Stangen gespießt waren.
    »Verräterschädel«,
brummte Cranston. »Natürlich, hier werden sie
aufgespießt.«
    Athelstan schaute
genauer hin und versuchte, nicht zu würgen. Wie alle Londoner
wußte er, daß die Köpfe von Hochverrätern,
nachdem die Körper zerhackt und gevierteilt worden waren, zur
London Bridge gebracht wurden, um dort zur Schau gestellt zu
werden. Schwarze Pfützen rings um die Spieße zeigten,
daß ein paar der Köpfe noch nicht alt waren, obwohl alle
bereits in Verwesung übergegangen waren; sie zerfielen im
Regen, und der Wind zerzauste das seltsam seidige Haar. Große
Raben, die damit beschäftigt gewesen waren, mit gelben
Schnäbeln saftige Bissen herauszuhacken, zogen jetzt
wütende Kreise am Himmel.   
    »Ihre
Haare«, wisperte Athelstan. »Seht doch, sie sind
gekämmt ...« 
    »Das mache
ich!« krähte der Zwerg. »Ich kümmere mich
schließlich um meine Köpfe. Jeden Morgen komme ich
herauf und kämme sie, damit sie sanft und freundlich aussehen.
Das heißt«, fuhr er verdrossen fort, »bis die
Raben anfangen, an ihren Haaren herumzureißen — obwohl
sie sich das meistens bis zum Schluß aufheben. O ja, ich
kämme sie, und wenn ich damit fertig bin, singe ich ihnen
etwas vor. Ich bringe meine Viola mit herauf. Am besten sind
Schlaflieder.« Er sah zu Athelstan hoch und strahlte vor
Stolz. »Ist niemals einsam hier oben«, erklärte
er. »Was diese Köpfe wohl alles wissen müssen
...«      
    »Um Gottes
willen«, murmelte Cranston. »Ich brauche eine
Erfrischung. Aber sei’s drum - heute früh habe ich einen
mächtigen Eid geschworen, nie mehr den Saft der Traube oder
die gepreßte Süße des Hopfens anzurühren.
Schauen wir uns Vecheys

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