Die Galerie der Nachtigallen
den Blick ihrer
lächelnden Augen, als verstünde nur sie allein seine
Einsamkeit und könnte mit ihm fühlen.
Athelstan
schüttelte den Kopf, zog sich an und ging hinunter in die
Küche. Er bat eine erschrockene Magd um eine Schale
heißes Wasser, ein sauberes Tuch und etwas Salz, um sich die
Zähne abzureiben. Nach den Waschungen ging er, weil es im Haus
immer noch ruhig war, hinaus, die Cheapside hinunter und zur Kirche
von St. Mary Le Bow. Die Glocken läuteten im hohen Turm, der
in einen stahlblauen Himmel aufragte. Athelstan sah, wie der
Nachtwächter das Licht löschte, das Leuchtfeuer, das
jeden Abend angezündet wurde, um Reisende durch die
Straßen Londons zu leiten.
Drinnen ging die
Frühmesse zu Ende; der Priester feierte das Meßopfer in
Gegenwart von drei alten Weibern, einem Bettler und einem Blinden
mit seinem Hund. Alle hockten auf den Steinplatten vor dem
Altargitter. Athelstan wartete neben dem Taufbrunnen. Als die Messe
zu Ende war, folgte er dem Priester in die Sakristei. Pater Matthew
war ein freundlicher Bursche und erfüllte Athelstan sofort
eine Bitte; er gab ihm Gewänder und Gefäße, damit
er in einer der kleinen Seitenkapellen abseits des Mittelschiffs
seine Messe zelebrieren könnte.
Als er die Messe
gelesen und sein Brevier gebetet hatte, dankte Athelstan dem
Priester, lehnte aber das angebotene Frühstück ab und
wanderte wieder zur Cheapside zurück. Die breite Straße
erwachte jetzt zum Leben. Die Suppenküchen waren
geöffnet, die Markisen der Läden heruntergelassen, und
schon sausten die Lehrjungen ein und aus und suchten Kunden
für ihre Meister. Der Ordensbruder ging wieder zur Poultry und
klopfte an der Haustür des Coroners. Cranston
begrüßte ihn. Wie das bekehrte Laster persönlich
stand er da - nüchtern, streng und voller Autorität, als
wollte er die Erinnerung an den Abend zuvor
auslöschen.
»Komm herein,
Bruder.« Er sah Athelstan aus dem Augenwinkel an, als er ihn
in die Diele bat. »Ich danke dir für deine Hilfe gestern
abend, als ich ein wenig unpäßlich war.« Athelstan
verbarg sein Lächeln; Cranston winkte ihn auf einen Schemel
und setzte sich ihm gegenüber auf einen mächtigen Stuhl
mit hoher Lehne. Maude sang in der Küche leise beim
Brotbacken, und der süße frische Duft erfüllte das
Haus.
Seltsam, dachte
Athelstan, daß ein Mann wie Sir John, der so sehr mit Blut
und Gewalt beschäftigt ist, in einer so anheimelnden Umgebung
lebt.
Cranston streckte die
Beine aus und legte sie dann übereinander.
»Nun,
Bruder-wollen wir einen klaren Fall von Selbstmord zu den Akten
legen?«
»Diesem Urteil
würde ich gern zustimmen«, antwortete Athelstan.
»Aber etwas fehlt mir da noch. Etwas, das ich nicht einordnen
kann, eine Kleinigkeit - wie ein loser Faden, der aus einem Gobelin
hängt.«
»In Gottes
Namen!« röhrte Cranston, erhob sich und ging in die Ecke
des Zimmers, wo seine Stiefel standen. Er zog sie an und warf dem
Bruder einen sauren Blick zu.
»Ich kenne dich,
Bruder, und deine Nase für Unannehmlichkeiten. Wenn du das
Gefühl hast, daß irgendwo etwas nicht stimmt, dann hast
du recht. Aber wir wollen uns vorsehen; Springall gehörte zur
Partei des Hofes, und wenn wir einen falschen Schritt tun —
nun ...« Er sprach nicht weiter.
»Was meint Ihr
damit?« fragte Athelstan scharf.
»Das, was ich
sage«, versetzte Cranston bissig. »Ich halte mich
heraus aus den schlammigen Tümpeln der Politik. Das gibt mir
das Recht, Trottel wie Fortescue zu beleidigen. Aber wenn ich bei
Hofe Anstoß errege, dann halten mich seine Gegner für
ihren Freund. Sieht es dagegen nur ein bißchen so aus, als
wollte ich Partei für den Hof ergreifen, so bin ich ihr
Feind.« Er knöpfte sich das Wams zu. »Gott
weiß, wann wieder Ordnung herrscht. Der König ist jung,
noch ein Kind. Gaunt ist so ehrgeizig. Du weißt, durch seine
Frau hat er Anspruch auf den Thron von Kastilien, durch seine
Großmutter Anspruch auf den Thron von Frankreich. Und
zwischen ihm und dem Thron von England - ein kleiner Junge.«
Cranston schloß die Tür des Zimmers, damit seine Frau
nichts hören konnte. »Vielleicht kommt es zu Gewalt. Um
mich mache ich mir keine Sorgen, aber ich will nicht, daß
bewaffnete Gefolgsleute meinen Haushalt in Angst und Schrecken
versetzen, weil sie mich mitten in der Nacht verhaften.«
Seufzend nahm er seinen Mantel und legte ihn sich schwungvoll um
die Schulter. »Aber ich vertraue deinem Urteil, Athelstan.
Irgendwas stimmt da nicht, aber Gott
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