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Die Galerie der Nachtigallen

Die Galerie der Nachtigallen

Titel: Die Galerie der Nachtigallen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Harding
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geschwollene schwarze Flut ziehen.
    Die Brücke war
auf neunzehn großen Bögen erbaut. Den letzten hatte
Vechey auserwählt, um sich daran zu erhängen. Er war auf
einen der großen Balken geklettert, die den Bogen
stützten, hatte ein Stück Strick herumgebunden, sich die
Schlinge um den Hals gelegt und war dann von dem mächtigen
steinernen Sockel heruntergesprungen. Ein Stück Strick
baumelte noch dort oben über dem Wasser. »Wieso
hängt sich ein Mensch da auf?« fragte Cranston.
»Das passiert oft«, antwortete der Torwächter.
»Die Leute erhängen sich, sie ertränken sich, und
immer suchen sie sich dafür die Brücke aus. Anscheinend
lockt die sie an.« »Vielleicht ist es der Bogen, der
sich sozusagen über die Kluft zwischen Leben und Tod
spannt?« erwog Athelstan. Er sah Cranston an.
»Bartholomew der Engländer hat eine berühmte
Abhandlung geschrieben, in der er feststellt, wie seltsam es doch
sei, daß sich die Menschen immer Brücken zum Sterben
aussuchen.«
    »Sag Bartholomew
dem Engländer meinen Dank«, erwiderte Cranston trocken.
»Aber das erklärt nicht, weshalb ein Londoner Kaufmann
im Dunkeln hierherkommt, ein Seil um einen Balken schlingt und sich
aufhängt.« »Lotterweiber kommen hierher«,
zwitscherte der Zwerg. »Dirnen! Huren!« erklärte
er. »Die bringen oft ihre Kunden her.«
    »Was hat
Bartholomew der Engländer dazu zu sagen, Bruder?« wollte
Cranston wissen.
    »Das weiß
ich nicht, aber wenn ich es weiß, werdet Ihr es als erster
erfahren.«
    Sie untersuchten noch
einmal den Strick, und als sie sich vergewissert hatten, daß
ihnen nichts entgangen war, stiegen sie die Steinstufen zu dem Pfad
oberhalb der Uferböschung hinauf. Cranston dankte dem
Torwächter für seine Mühe und drückte ihm
unauffällig ein paar Münzen in die Hand.
    »Für die
Kinder«, brummte er. »Ein bißchen Gebäck,
ein bißchen Zuckerwerk.«
    »Und der
Tote?«
    Cranston zuckte die
Achseln. »Schickt eine Botschaft an Sir Richard Springall.
Der hat ein Haus in der Cheapside. Sagt ihm, Ihr hättet
Vecheys Leiche. Wenn er sie nicht abholen läßt, werden
die Männer des Sheriffs, die sich die Wertsachen des armen
Vechey unter den Nagel gerissen haben, ihm ein Armengrab
besorgen.«
    »Am
Kreuzweg«, sagte der Zwerg mit weit aufgerissenen
Augen.
    »Was heißt
das?«
    »Er meint, Sir
John«, warf Athelstan ein, »daß Vechey Selbstmord
begangen hat. Wie Brampton sollte man ihm einen Pfahl durchs Herz
stoßen und ihn am Kreuzweg begraben. In vielen Gegenden auf
dem Lande tun die Leute das noch. Sie behaupten, daß dann die
unruhige Seele des Toten nicht umgeht. Aber was heißt das
schon? Es ist doch nur die sterbliche Hülle. Ich werde des
armen Vechey in der Messe gedenken.«
    Sie sagten dem kleinen
Torwächter Lebewohl, holten ihre Pferde bei der Schänke
ab und entschlossen sich angesichts des Gedränges, zu
Fuß die Cheapside hinaufzugehen. Die Menschen wimmelten
umeinander wie in einem Bienenstock, und das Getöse war so
stark, daß sie sich nicht unterhalten konnten. Als die
Straße breiter wurde und die Häuser nicht mehr so eng
beieinander standen, entspannten sich beide. Athelstan streichelte
Philomels Nase und schaute hinüber zu dem schwitzenden
Cranston.
    »Warum sollte
Vechey sich umbringen?«
    »Verdammt, das
weiß ich doch nicht!« versetzte Cranston unwirsch und
wischte sich den Schweiß vom Gesicht. »Wenn dieser arme
Scheißer nicht wäre, könnte ich jetzt in den
>Gekreuzten Schlüsseln< sitzen, voll wie ein
Bischofsfurz, und du wärest wieder in deiner baufälligen
Kirche und könntest deine blöde Katze füttern oder
die verdammten Sterne beglotzen. Oder versuchen, die Seele
irgendeines miesen kleinen Schurken zu retten, der dir — ehe
du dich versiehst - die Kehle durchschneidet.«
    Athelstan
grinste.
    »Ihr braucht
eine Erfrischung, Sir John. Ihr habt einen schweren Vormittag
hinter Euch. Die Strapazen des Amtes, die anstrengenden Pflichten
eines Coroners ... manch Geringerer würde darunter
zerbrechen.«
    Cranston starrte den
Ordensbruder giftig an. »Ich danke dir, Bruder«, sagte
er. »Deine tröstenden Worte sind Balsam für mein
Herz.«
    »Seid beruhigt,
mein Sohn«, sagte Athelstan unbeirrt. »Dort drüben
ist Springalls Haus. Und hier«, er drehte sich um, und wies
auf ein großes grellbuntes Schild, »ist die Taverne
>Zum Heiligen Lamm Gottes<. Der Körper braucht
Erfrischung.« Er grinste. »Und da Euer Körper so
groß ist, braucht er sie mehr als andere.«
    Cranston klopfte

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