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Die Galerie der Nachtigallen

Die Galerie der Nachtigallen

Titel: Die Galerie der Nachtigallen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Harding
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worden.«
    Athelstan
lächelte. »Ja, aber da muß noch etwas
sein.«
    Er bat Cranston, auf
ihn zu warten, und stieg die Treppe hinauf. Auf dem ersten Absatz
blieb er stehen und warf einen Blick in die Galerie der Nachtigall.
Er war so in Gedanken, daß er zusammenzuckte, als Allingham
plötzlich seine Schulter berührte.
    »Bruder
Athelstan, kann ich Euch helfen?«
    Das lange Gesicht des
Kaufmanns sah jetzt noch trauriger aus, und Athelstan war sicher,
daß der Mann geweint hatte. »Nein, nein, Master
Allingham, danke. Ihr habt ohne Zweifel gehört, daß
Vechey tot ist?«
    Der Kaufmann nickte
betrübt.
    »Der
Arme«, sagte Athelstan. »Ihr wißt wohl nicht,
weshalb er sich das Leben hätte nehmen
sollen?«
    »Er war eine
verstörte Seele«, antwortete Allingham. »Eine
geplagte Seele, gequält und gepeinigt von seinen Gelüsten
und Lastern. Rätselhaft war nur, daß er zuletzt immer
wieder murmelte: >Es waren nur einunddreißig, es waren nur
einunddreißig ...<«
    »Wißt Ihr,
was er damit meinte?«
    »Nein. Als wir
gestern in Sir Thomas’ Schlafgemach gingen, hörte ich
nur, wie er es vor sich hin murmelte.« Allingham verdrehte
die Augen. »>Nur einunddreißig<, sagte er,
>ich bin sicher, es waren nur einunddreißig.< Ich
erinnere mich noch genau«, fügte er hinzu, »weil
Vechey ratlos und beunruhigt wirkte.«
    »Und Ihr
wißt nicht, wovon er sprach?«
    Allingham
schürzte die Lippen. »Nein, Bruder. Aber wenn ich es
herausfinde, werde ich es Euch sagen. Einstweilen sage ich Euch
Adieu.«
    Er stieg die
Holztreppe hinunter, und Athelstan ging durch die Galerie und zum
Dachboden hinauf. Oben stieß er die Tür auf und bereute
sofort, daß er nicht um eine Kerze gebeten hatte. Es war
finster und klamm in der Dachkammer. Ein Frösteln
überlief den Ordensbruder. Hier herrschte eine unheimliche
Atmosphäre, ein Gefühl drückender Bösartigkeit.
Hatten die Kirchenväter recht, wenn sie behaupteten, daß
die Seele eines Selbstmörders für alle Zeit am Ort ihres
Todes bleiben muß? Schwebte Bramptons Seele etwa hier, jetzt
und in alle Ewigkeit, zwischen Himmel und Hölle?
    Er sah sich um. Der
Tisch war von seiner greulichen Last befreit und der von Müll
übersäte Boden sauber gefegt worden. Es sah ordentlicher
und aufgeräumter aus als am Tag zuvor. Was hatte er hier
gesehen, das nachher an seiner Erinnerung gezerrt und gezupft
hatte? Etwas, das nicht an seinem Platz gewesen war? Er lehnte sich
an die Wand und versuchte verzweifelt, seine Gedanken zu
klären, aber die Erinnerung wollte sich nicht fassen lassen.
Seufzend sah er sich noch einmal um und ging wieder hinunter zu Sir
John. Der Coroner stand schlecht gelaunt an der Hauswand und trat
von einem Bein aufs andere; er hielt Abstand von der Menschenmenge,
die jetzt die Cheapside erfüllte. Er zog Athelstan dicht zu
sich heran.
    »Die lügen,
was, Bruder? Irgendwas stimmt da nicht - aber was?«
    »Ich weiß
es nicht, Sir John, aber es kann viele logische Erklärungen geben. Vielleicht
stimmt etwas nicht, und sie wissen es gar nicht. Vielleicht stimmt
etwas nicht, aber nur einer oder zwei von ihnen kennen die
Wahrheit. Oder - die letzte Möglichkeit - es stimmt etwas
nicht, aber nur jemand außerhalb des Haushalts weiß
darüber Bescheid.«
    »Wer zum
Beispiel?«
    Athelstan sah sich um
und senkte die Stimme. »Lord Gaunt. Vielleicht sogar der
Oberrichter Fortescue; schließlich hat er gelogen: Er hat
behauptet, er habe das Haus zum Abendläuten verlassen, aber
Sir Richard sagt, es war viel später.« Sir John rieb
sich die Wange. »Ja, der Oberrichter Fortescue. Wir haben
nicht einmal einen guten Grund für seine Anwesenheit. Wieso
sollte er einen Londoner Kaufmann besuchen?« Der Coroner
grinste böse und nagte mit großen weißen
Zähnen an seiner Unterlippe. »Ich freue mich darauf,
eben diese Frage unserem Lord Oberrichter zu stellen - aber zuerst
eine Erfrischung. Oh!« Cranston klopfte auf seine Tasche.
»Ich habe die kleine Phiole mit dem Gift mitgenommen, die
Brampton benutzt haben soll.« Er legte nachdenklich einen
Finger an die Nase. »Ich habe da eine Idee — aber nicht
jetzt. Jetzt brauche ich was zu trinken.«

Kapitel 4
    Athelstan verzog
schmerzlich berührt das Gesicht. Er hatte gehofft, Sir John
möge der Appetit vergangen sein, aber dieser Mann war
anscheinend ebenso unersättlich wie außerstande, aus
seinen Erfahrungen zu lernen. Betrübt folgte er ihm nun
über die Straße, als Sir John pfeilgerade dem
>Heiligen Lamm Gottes< zustrebte.

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