Die Galerie der Nachtigallen
verkündete, sie würden ihm
großen Erfolg bringen. Was er damit meinte, weiß ich
nicht.«
»Was für
Rätsel gab Euer Bruder denn sonst noch auf?« fragte
Cranston.
»Gar
keine.«
»Doch.«
Lady Isabella ergriff das Wort. Sie schob den schwarzen Schleier
von ihrem Gesicht. »Ihr wißt doch - der
Schuhmacher.«
»Ach ja.«
Sir Richard lächelte. »Der
Schuhmacher.«
»Lady
Isabella«, sagte Cranston, »was war mit dem
Schuhmacher?«
Sie spielte mit dem
funkelnden Ring an ihrem Finger. »Nun, in den letzten paar
Monaten sprach mein Gemahl immer wieder von einem Schuhmacher. Er
behauptete, der Schuhmacher kenne die Wahrheit, und der Schuhmacher
sei schuldig.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich
weiß nicht, was er damit meinte. Manchmal bei Tisch«,
fuhr sie mit falschem Lächeln fort, »war er ganz wie
Ihr, Sir John. Er schätzte einen großen Becher Rotspon.
Und dann sagte er: >Der Schuhmacher kennt die Wahrheit, der
Schuhmacher kennt die Wahrheit.<«
Cranston beobachtete
sie aufmerksam. »Wann fing Euer Gemahl an, in diesen
Rätseln zu sprechen?«
»Die
Bibelsprüche? Vor ungefähr ... ungefähr vierzehn,
fünfzehn Monaten.«
»Und das
Rätsel vom Schuhmacher?«
Cranston bemerkte,
daß Lady Isabella angespannt und besorgt wirkte.
»Kurz nach
Weihnachten? Ja. Das erstemal kam er beim Mummenschanz in der
Dreikönigsnacht mit diesem Rätsel.«
Athelstan spürte,
daß die Rätsel wichtig waren. Totenstille hatte sich
über den Raum gelegt, unterbrochen nur von Cranstons schroffen
Fragen, den nicht minder schroffen Antworten und dem Knacken und
Knistern der Scheite im Feuer. Was befürchteten diese
Menschen? fragte er sich. Was hatten die Rätsel zu
bedeuten?
»Sagt
mir«, forderte er die Gesellschaft auf, »hat sich im
Hause irgend etwas ereignet, was diese Rätsel erklären
könnte? Etwas im Leben Sir Thomas’? Sir Richard, Lady
Isabella ... Ihr standet Sir Thomas doch am
nächsten.«
»Ich weiß
es nicht«, sagte Sir Richard leise. »Mein Bruder sprach
gern in Rätseln und von Lehren und Parabeln. Er war ein
Mensch, der die Geheimniskrämerei um ihrer selbst willen
liebte und solche Geheimnisse an seinem Busen barg wie andere Gold,
Silber oder Edelsteine. Nein, etwas Besonderes ist hier nicht
geschehen.«
»Seid Ihr
sicher?« Cranston sah ihn an und balancierte den Becher auf
seinen stämmigen Oberschenkeln. »Seid Ihr sicher, Sir
Richard? Meine Erinnerung läßt mich im Stich, was die
Einzelheiten angeht, aber gab es hier nicht schon vor acht Monaten
einen Todesfall?«
Lady Isabella
erbleichte, und Sir Richard blickte starr zu Boden.
»Nein.«
»Kommt, kommt,
Sir!« bellte Cranston. »Da war doch
etwas.«
»Ja«,
sagte Lady Isabella leise. »Sir Richard kann sich nur nicht
erinnern.« Sie sah Sir John jetzt mit größerer
Wachsamkeit an, als hätte sie erkannt, daß der Coroner
nicht der Trottel war, als der er gern erscheinen wollte.
»Das war Eudos
Tod.«
»Ach ja,
Eudo«, wiederholte Cranston. »Wer war das noch?«
Sir Richard hob den Kopf. »Ein junger Page. Er fiel aus dem
Fenster und brach sich den Hals, draußen im Hof. Es gab keine
Erklärung für den Sturz, aber Sir Thomas glaubte,
daß der Junge in irgendeine törichte Posse verwickelt
war. Er war auf der Stelle tot; er hatte sich den Schädel
eingeschlagen und das Genick gebrochen.«
Cranston trank seinen
Becher leer und strahlte, als beglückwünschte er sich
selbst; dann grinste er Athelstan verschlagen zu, und dieser sah
ihn wütend an. Hätte ihm der Coroner doch bloß
früher davon erzählt!
»Ja, Eudos Tod.
Ich lag damals mit Schüttelfrost krank darnieder, aber ich
erinnere mich an die Akte mit dem Befund. Der arme junge«,
murmelte Cranston. »Dies ist ein Unglückshaus.« Er
stand auf und musterte sein Publikum mit schwerem Blick. »Ich
muß Euch alle eindringlich ermahnen, größte
Vorsicht walten zu lassen. Es gibt etwas Bösartiges hier,
einen bösen Fluch. Er wird vielleicht noch weitere
Menschenleben fordern. Lady Isabella, Sir Richard ...« Er
verbeugte sich und ging hinaus.
Athelstan folgte ihm,
blieb aber an der Tür stehen und sah sich noch einmal um. Alle
waren sitzen geblieben, als hielte sie ein Geheimnis auf ihren
Plätzen.
»Sir
Richard?« fragte Athelstan.
»Ja,
Bruder?«
»Darf ich Euch
um die Erlaubnis bitten, die Dachkammer noch einmal zu sehen, in
der Brampton starb?«
»Natürlich.
Aber wie schon gesagt, sein Leichnam ist in Tücher gewickelt
und nach St. Mary Le Bow gebracht
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