Die Gamant-Chroniken 01 - Das Licht von Kayan
klar, Jeremiel. Wirklich. Doch wir haben niemals erlebt, daß das Auftauchen der Lauscher negative Auswirkungen gehabt hätte. Aus diesem Grund glaube ich nicht, daß wir unsere Pläne ändern sollten.«
Jeremiel rieb sich heftig die Stirn. Besaß der alte Mann denn überhaupt kein Gespür für die Erfordernisse einer Schlacht? In dem Moment, wo es auch nur den Anschein hatte, die Pläne wären verraten worden, flüchtete ein guter Kommandeur so schnell wie eine Fledermaus aus den Gruben der Finsternis. Es sei denn, er säße in der Falle und hätte keine Wahl mehr. Doch sie saßen nicht in der Falle – noch nicht.
»Nein, Rathanial. Das werde ich nicht riskieren.«
»Bitte, Jeremiel. Laß … laß es uns überprüfen. Bei diesem letzten Treffen haben wir über viele Dinge gesprochen, beispielsweise darüber, daß wir unsere Streitkräfte auf den Kampf gegen den Mashiah vorbereiten wollen. Wenn der Lauscher Adom unsere Pläne enthüllt, wird er sicher sofort seine Truppen sammeln, um uns aufzuhalten.«
Das hörte sich einleuchtend an. Je länger der Mashiah wartete, um so geringer wurden seine Aussichten, den Kampf zu gewinnen. Er würde so schnell wie möglich agieren müssen, um ihre Anstrengungen zu unterbinden. »Also?«
Rathanial seufzte müde. »Verschieben wir Rachels Aufbruch um ein paar Wochen und beobachten wir unterdessen Adoms Aktivitäten in der Stadt so genau wie möglich. Gibt es Anzeichen, daß er Truppen zusammenzieht, entwickeln wir einen anderen Plan.«
Jeremiels Kehle wurde eng. Irgend etwas stimmte nicht, meldete ihm sein Gefühl. »In Ordnung. Aber dann werde ich mich mit gleicher Energie um drei alternative Strategien kümmern, nur für den Fall, daß wir unsere Pläne im letzten Moment ändern müssen.«
»Gut. Ja, das klingt vernünftig.«
Jeremiel verzog keine Miene, als er sah, wie sich die Erleichterung in Rathanials Haltung spiegelte. Der alte Mann ließ sich auf seinem Stuhl zurücksinken und wischte sich heimlich den Schweiß von der Stirn. Er machte den Eindruck, als wäre gerade eine schreckliche Last von seinen Schultern genommen worden.
»Ich brauche alles, was du an Informationen über den Palast und seine Konstruktion zusammenkratzen kannst.«
»Ich werde Vater Harper bitten, dich in den Dokumentenraum zu führen. Wir besitzen Tausende von Büchern, in denen die in den vergangenen Jahrhunderten vorgenommenen Änderungen aufgezeichnet worden sind. Doch Gott weiß, es ist uns trotzdem nie gelungen, eine Schwachstelle zu finden, die wir hätten ausnutzen können. Aber vielleicht gelingt es ja dir.«
»Darauf baue ich.«
KAPITEL
21
Sybil schlenderte mürrisch durch die Kaverne, hob hin und wieder Steine auf, nur um sie sogleich wieder auf die Erde zu schmettern, und beobachtete ihre Mutter und Jeremiel aus den Augenwinkeln. Sie beugten sich über einen von Karten bedeckten Tisch und sprachen leise miteinander. Jeremiel, der graue Kleidung trug, war gut einen Fuß größer als ihre Mutter, die sich mit dem Ellbogen auf den Tisch stützte und nachdenklich zu ihm aufblickte. Ihr jadefarbenes Gewand schimmerte im schwachen Kerzenschein stumpfgrün. Sybil knallte einen weiteren Stein auf den Fußboden und schaute hoffnungsvoll hoch. Doch keiner von beiden drehte sich zu ihr um. Niemand scherte sich um ihre Sorgen, die sie fast krank vor Angst machten. Ihre Mutter würde fortgehen!
Sybil schlich langsam zur gegenüberliegenden Wand, wo die Schatten wie kühle Schutzschilde auf den Steinen hafteten. Die Höhlen verbreiteten Kälte und Staub, obwohl es praktisch in jedem Raum eine Feuerstelle gab. Sie blickte zur hohen Decke empor, wo die Flammen geheimnisvoll flackernde Schatten auf den Stein warfen, und biß sich auf die Lippe. Warum durfte sie nicht mit ihrer Mutter gehen? Sie war noch nie ohne ihre Mutter gewesen, weder an jenem schrecklichen Tag in dem zerstörten Tempel, als ihr Vater getötet wurde, noch während der furchtbaren Zeit auf dem Platz. Warum mußte es gerade jetzt sein?
Sybil malte eine Reihe von Wellenlinien in den Sand neben ihrem Oberschenkel. Oh, sie hatten darüber gesprochen, daß ihre Mutter Jeremiel und den Wüstenvätern helfen mußte, den Krieg gegen den Mashiah zu gewinnen, doch Sybil verstand nicht, weshalb sie nicht ebenfalls helfen durfte. Sie konnte eine Menge tun, und … und außerdem brauchte ihre Mommy sie. Manchmal, wenn ihre Mutter des Nachts weinte, mußte Sybil sie in den Arm nehmen und ihr erklären, daß sie sich nicht
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