Die Gamant-Chroniken 01 - Das Licht von Kayan
fürchten durfte, weil sie sonst nicht schlafen könnte. Aber was sollte sie denn anfangen, wenn sie zwei Monate allein war? Würde sie überhaupt jemals schlafen? Zwei Monate … das war eine Ewigkeit.
»Verdammt, Rachel!« fluchte Jeremiel, und Sybils Kopf fuhr hoch. Er stand zornig da und hatte eine Hand in die Hüfte gestützt. »Wir können das nicht tun und gleichzeitig überleben, um hinterher allen davon zu erzählen. Und ich für meinen Teil habe durchaus vor, zu überleben. Glauben Sie nicht …«
»Schrei meine Mommy nicht an!«
Jeremiel und ihre Mutter drehten sich um und schauten sie an. Sybil wäre am liebsten mit den Felsen verschmolzen, um sich zu verbergen. Ihre Mutter verzog unwillig den Mund.
»Liebes? Warum gehst du nicht nach unten in den botanischen Garten, um dort zu spielen?«
»Ich kann nicht. Avel kommt heute her, um mich zu unterrichten.«
Ihre Mutter fuhr sich mit der Hand durch das lange schwarze Haar und seufzte. »Stimmt. Das hatte ich vergessen. Na ja, vielleicht könntest du …«
»Sie könnte herkommen und uns helfen«, schlug Jeremiel sanft vor. »Sybil, möchtest du vielleicht die Nadeln für uns stecken?«
Hoffnung flackerte in ihr auf. Sie sprang auf die Füße, rannte quer durch den Raum und kletterte auf einen Stuhl, um sich über die Karten beugen zu können.
Jeremiel lehnte sich vor und deutete auf eine Reihe dicht nebeneinander liegender Striche. »Genau hier. Das sind die Höhenlinien einer Klippe.«
Sybils Augen wanderten zu dem Häufchen verschiedenfarbiger Nadeln. »Welche Farbe?«
»Dort sollte eine rote Nadel hin.«
»Was bedeutet das? Rot?«
Jeremiel runzelte die Stirn und zögerte. »Es bedeutet … nun ja …«
Sybil legte die Nadel auf den Haufen zurück. »Ich kann ein Geheimnis für mich behalten, Mr. Baruch.«
»So, kannst du das?«
»Ja, meine Mommy hat mir das beigebracht. Nicht wahr, Mommy?«
»Ja, das stimmt.«
Er warf Rachel einen sanften Blick zu. »Das bezweifle ich nicht«, meinte er und beugte sich vor, um die Nadeln zu sortieren. »In Ordnung, du hörst genau zu?«
»Ja.« Sybil betrachtete ihn eingehend und stellte fest, daß er müde aussah. Er hatte dunkle Ringe unter den Augen, und auf seiner Stirn waren tiefe Linien eingegraben.
Er hob eine der Nadeln auf. »Das ist eine blaue Nadel, und die …«
»Mr. Baruch, ich bin vielleicht noch ein Kind, aber ich bin kein dummes Kind. Ich kenne die Farben.«
Seine Mundwinkel zuckten, als er ein Lächeln unterdrückte. »Oh, Verzeihung. Versuchen wir es noch einmal. Rot sind Geschützstellungen. Blau sind Truppenkontingente. Die Grünen stehen für Nachrichteneinheiten, und die Weißen markieren medizinische Einrichtungen.«
Sybil nickte hastig. Sie war begeistert, an der Arbeit der Erwachsenen Anteil zu haben. Mit dem Finger berührte sie mehrere der blauen Markierungen auf der Karte. »Dann werden die Leute also hier kämpfen, wenn Sie den Mashiah angreifen?«
»Genau.«
Sybil bemühte sich, heimlich sämtliche Markierungen auswendig zu lernen, damit sie später mit ihrer Mutter darüber reden konnte. »Und wo wird meine Mommy sein?«
Jeremiel deutete mit einer Handbewegung an, daß ihre Mutter ihr diese Frage selbst beantworten würde. Sybil drehte sich zu ihr um. »Wo, Mommy?«
»Ich werde im Palast sein, Sybil. Siehst du den purpurnen Fleck dort auf der Karte?«
Furcht raste wie Säure durch Sybils Adern. Warum hatte ihre Mutter das nicht schon früher erzählt? Ihr Herz klopfte so heftig, daß sie kaum denken konnte. »Beim Mashiah?«
»Ja, aber mach dir keine Sorgen, Kleines. Jeremiel wird auch dort sein, und wir …«
»Ich will nicht, daß du gehst!« Sie schlang die Arme um den Hals ihrer Mutter und hielt Rachel so fest, als wollte sie sie nie wieder loslassen. »Mommy, er haßt dich doch! Er wird dich umbringen, genau wie Daddy!«
Ihre Mutter nahm sie auf und trug sie ein Stück vom Tisch fort, wobei sie ihr beruhigend den Rücken streichelte. Doch es half nichts. Das schreckliche Gefühl des drohenden Verhängnisses blieb. Durch den Schleier der Haare ihrer Mutter sah Sybil, daß Jeremiel die Arme verschränkt hatte und sich müde gegen den Tisch lehnte.
»Mommy, ich will nicht, daß du das tust!«
»Ich weiß, Liebes, aber ich muß. Es gibt niemand anderen, der tun könnte, was getan werden muß.«
»Was mußt du denn tun? Den Palast in die Luft jagen, so wie damals den Tempel?«
»Ja … ja, etwas in dieser Art. Aber mach dir keine Sorgen. Jeremiel und ich
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