Die Gamant-Chroniken 01 - Das Licht von Kayan
und Rachel erkannte voller Entsetzen, daß die heiße Flüssigkeit, die ihre Kleidung tränkte, Blut war.
Das schrille Pfeifen der Gewehre ging endlos weiter. Es klang wie Klagelaute, die aus den Abgründen der Dunkelheit hervordringen. Nach etwa zehn Minuten wich das Dauerfeuer vereinzelten Schüssen. Offenbar wurde jeder, der noch lebte und den Kopf hob, zum nächsten Ziel der Soldaten.
Rachel hörte Sybil leise weinen, und Erleichterung und Verzweiflung wetteiferten in ihrem Innern miteinander. Sie lebte? O Gott, weshalb denn nur? Um noch zwei weitere Tage zu leiden, bis der Durst sie endlich umbrachte?
»Mom?«
»Lieg still.«
»Durst … Mommy.«
»Schlaf, mein Kleines. Wenn du wieder aufwachst, finden wir Wasser, das verspreche ich dir.« Ja, wir werden Wasser finden, wenn wir dann noch lebendig genug sind, um zu kriechen. Verstohlen streichelte sie den Arm ihrer Tochter und schaute durch die übereinander liegenden Leichen zum Himmel auf.
Ein paar Sterne stachen durch das dunkle Tuch des Firmaments. Strahlende Sonnen, die durch die weite, kalte Leere trieben. Rachel legte den Kopf auf den warmen roten Erdboden und versuchte zu schlafen.
Sie erwachte in der Dunkelheit vor Tagesanbruch, und ein bißchen von ihrer Kraft war zurückgekehrt. So fiel es ihr leichter, den Kopf zu heben, um über den Arm eines Leichnams hinweg zu den Mauern zu schauen. Der Wüstenwind trieb ihr stechenden Blutgeruch ins Gesicht. In der Ferne stieg der Mond hinter einem dunstigen Nebelstreife auf und warf ein unheilvolles rötliches Licht über die Hügelkette. Es schienen keine Wachen mehr da zu sein. Vielleicht hatten sie sich an einer anderen Stelle versammelt. Rachel schüttelte sanft ihre Tochter.
»Sybil? Kannst du laufen, Kleines?«
Das Mädchen nickte schwach. »Ja. Wohin gehen wir?«
»Zum Tor.«
Rachel schob ihre Arme zwischen die Leichen, stemmte sich hoch und schuf so einen Durchgang in der schwarzen Decke des Todes. Dann schob sie sich langsam und lautlos hinaus und zog Sybil nach. Die Kühle der Nacht umfing sie.
Sybil zitterte, als sie sich umsah. Ihr Flüstern klang heiser und schreckerfüllt. »Ich … ich kann das nicht. Ich kann niemand anfassen …«
»Du mußt, Liebes. Wenn wir hier nicht verschwinden, kommen sie zurück und töten uns.«
»Nein, Mommy! NEIN!« schrie sie auf und versuchte verzweifelt, an ihrer Mutter hochzuklettern. Ihre Fingernägel bohrten sich tief in Rachels Hals und Schultern.
»Hör mir zu«, sagte Rachel und zog sie dicht an sich. »Hör mir gut zu! Willst du hier warten, bis die Wachen mit ihren Gewehren zurückkommen?«
»Mommy, bitte, zwing mich nicht. Bitte! Ich … ich kann sie nicht anfassen.«
Rachel folgte Sybils Blick auf die im Tod erstarrten, angsterfüllten Gesichter. Klaffende Münder, Arme, die noch immer das Massaker abzuwehren schienen. Rachel streichelte Sybil den Rücken, um ihre Furcht zu mindern. Lieber Himmel, hatte sie etwa vergessen, was ihre Tochter durchgemacht hatte? »Es tut mir leid, Kleines. Mommy tut es leid. Ich will versuchen, dich zu tragen, während ich krieche. Kannst du auf meinen Rücken klettern und die Augen zumachen?«
»Ja«, hauchte Sybil kläglich. »Mach schnell, bitte.«
Rachel erhob sich auf Hände und Knie, und Sybil krabbelte auf ihren Rücken und legte die Arme fest um ihre Schultern. Andere Menschen bewegten sich ebenfalls in der Masse der Toten, und alle hatten die gleiche Richtung eingeschlagen. Mühsam und geschwächt kroch Rachel ihnen nach, während ihre Knie immer wieder in den blutgetränkten Kleidungsstücken versanken.
Sybil schluchzte immer wieder in ihr Haar: »Mommy, Mommy, Mommy …«
»Nicht weinen, Sybil«, versuchte sie das Kind zu trösten, doch ihre Stimme klang rauh und hohl. »Wir schaffen das schon.«
»Was ist mit Daddy? Ich habe andere aus dem Tempel hier gesehen. Vielleicht ist er daheim und wartet auf uns?«
Rachel hatte das Gefühl, ihr Herz würde zerspringen. Trauer erfüllte sie. »Vielleicht, Liebes.«
Sie stützte sich mit einer Hand auf das Bein einer toten Frau, die von den Strahlen in zwei Hälften zerschnitten worden war, und schaute sich forschend auf dem Platz um. Weshalb waren die Wachen gegangen? Hatte der Mashiah beschlossen, jene, die noch lebten, entkommen zu lassen? Damit sie von dieser Sache berichten konnten? Um andere dermaßen einzuschüchtern, daß sie sich seiner dämonischen Herrschaft unterwarfen?
Der Haß, der in ihr aufstieg, nahm ihr den Atem. Sie konzentrierte
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