Die Gamant-Chroniken 01 - Das Licht von Kayan
…?«
»Spielt das eine Rolle?«
»Vielleicht denkt er ja, wir hätten genug erlitten und läßt uns gehen. Vielleicht ist er gekommen, um …«
Rachel lachte bitter. »Glauben Sie, Gott hat ihn gesandt, um uns zu retten?«
»Ja … ja, so muß es sein. Gott hat endlich unsere Qual gesehen und …«
»Selbst Gott wendet seinen Blick ab, Talo. Selbst Gott. Sie werden schon sehen.«
»Das ist nicht wahr!« rief er wütend und beugte sich drohend vor. »Wir sind seine Kinder. Er liebt uns!« Doch er schien eher sich selbst überzeugen zu wollen als Rachel.
Rachels Aufmerksamkeit ließ nach. Sie spähte zu den Wachen hinüber. Sie hatten ihre Positionen gewechselt. Statt weiterhin auf den Mauern zu patrouillieren, hatten sie sich in der jenseitigen Ecke zusammengedrängt. Erhielten sie dort neue Befehle? Hinter ihnen schimmerten die Spitzen der Berge in der Abendsonne, die sie in leuchtendes Kastanienrot tauchte.
Rachel schloß die Augen. »Be’ol’mo deevro chiroo-sey …«
»Wir werden nicht sterben. Sie werden schon sehen. Er ist gekommen, um uns zu vergeben.«
Rachel schüttelte den Kopf.
»Rebellen?« dröhnte eine Stimme vom Samuel herab. »Der Mashiah grüßt euch.«
»Lieber Gott, laß uns frei!« kreischte Talo.
Getöse erhob sich auf dem Platz, als die Menschen um Gnade schrien und auf ihre Nachbarn einschlugen, um sie fortzuscheuchen, damit der Mashiah ihr Winken und ihre reuigen Gesichter sehen konnte. Doch Rachel wußte, daß die Stimme nicht Adom gehörte, sondern Ornias. Sie hatte sein salbungsvolles Geschwätz schon oft genug gehört. Der Samael sank tiefer und glitt langsam über die Menge.
»Ich konvertiere!« schrie ein Mann. »Laßt mich zum Glauben des Milcom übertreten.«
»Ich habe die Wahrheit erkannt! Ich weiß, der Mashiah ist der verheißene Erlöser. Laßt mich …«
Ähnliches Wehklagen erhob sich überall auf dem Platz. Die Menschen weinten und gelobten Adom Kemar Tartarus Treue, wenn er nur ihre Kinder am Leben ließe.
Rachel warf einen Blick nach unten, wo sich Sybils Beine verräterisch unter dem Saum ihrer Robe abzeichneten. War ihr kleines Mädchen tot? War das der Grund, warum Sybil sich trotz der Kakophonie aus Weinen und Rufen, die die Luft erfüllte, nicht rührte? Schrecklicherweise hoffte Rachel, daß es so war. Sie wollte nicht mit ansehen müssen, was man ihrem einzigen Kind antun mochte. »Besser tot, als vom Mashiah exemplarisch bestraft zu werden.«
»Nein«, beharrte Talo, in dessen Augen Tränen der Hoffnung glitzerten. »Er wird uns erretten. Ich kann es fühlen. Spüren Sie es denn nicht? Gott hat in gesandt …«
»Bezeuget die Macht des Mashiah, gegen den ihr euch gewandt habt«, intonierte Ornias vom schwarzen Schiff herab.
Ein blendender violetter Blitz schnitt eine sechs Fuß breite Spur in den roten Boden am Rand der Mauer. Die Menschen, die dort gestanden hatten, verschwanden in einem rötlichen Aufspritzen. Rachel schützte ihre Augen vor dem Staub, der durch die Luft gewirbelt wurde. Gott sei Dank, er benutzt die Schiffsgeschütze, statt die Marines mit ihren Gewehren vorzuschicken. Der Tod durch die Kanonen kam schnell und schmerzlos.
Schreie erfüllten den Platz, als die Menschen versuchten, sich so weit wie möglich von den tödlichen Strahlen zu entfernen. Eine dichte erstickende Staubwolke stieg auf. Rachel rührte sich nicht. Sie hatte Angst, sie würde entdecken, daß Sybil tot war, wenn sie sich herabbeugte – und das hätte sie nicht ertragen. Verängstigte Männer und Frauen stürzten an ihr vorbei und drängten sich verzweifelt an der rückwärtigen Mauer zusammen.
Auf der freigewordenen Fläche entdeckte Rachel einen Jungen, der neben seiner toten Mutter auf dem Boden saß. Seine Augen starrten blicklos ins Leere, während er sanft ihre Hand streichelte und dabei leise Worte murmelte. Im Hintergrund nahmen die Wächter langsam wieder ihre früheren Positionen auf den Mauern ein. Doch diesmal summten ihre Gewehre, und das Geräusch schnitt scharf durch das Wehklagen der verzweifelten Menschen.
Rachel schloß die Augen, und jeder Muskel ihres Körpers versteifte sich, als sie die letzten Kraftreserven sammelte. »Ve’yamlich malchoosy …«
Und dann begann das Schießen.
Die Menge geriet in Panik und rannte kopflos umher, um den peitschenden Todesstrahlen zu entgehen, die den Platz zerschnitten. Mehrere der Gehetzten stießen fast gleichzeitig gegen Rachel. Sie warf sich über Sybil. Menschen stolperten über sie hinweg,
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