Die Gamant-Chroniken 01 - Das Licht von Kayan
uralter Schrecken lauere abwartend nur auf Armeslänge entfernt.
»Wer bist du?« rief er in den Nebel.
Die Menschen um ihn herum bewegten sich unbehaglich und versuchten, seinen Blicken zu folgen. Leises Raunen furchterfüllter Stimmen drang durch den nassen Wald. »Er ist krank vor Kummer. Kein Wunder …« – »Man kann kaum erwarten, daß jemand es ohne Schaden übersteht, wenn so etwas geschieht!«
»Wer, Papa?«
»Ich kann nicht …« Dann war es vorbei. Zadoks Stimme verklang.
»Abba?« sagte Rathanial heiser. »Wir sollten … sie … schnell von hier fortbringen. Und dann müssen wir reden. Der Mashiah ist diesmal zu weit gegangen.«
»Der Mashiah?«
»Ja! Das ist eindeutig seine Handschrift. Genau wie bei der Dürre.«
»Laß uns später darüber sprechen.« Zadok hob schweigengebietend die Hand. Er war innerlich viel zu aufgewühlt. Langsam trat er vor, hob vorsichtig Ezarins Kopf auf und barg ihn in seinen Armen, wie er es immer getan hatte, als sie noch ein Kind war. Ein zärtliches Schlaflied kam ihm in den Sinn, und er sang es mit brüchiger Stimme, während er das lange schwarze Haar streichelte, das wie ein Schleier über dem blutbefleckten Gesicht seines ältesten Kindes lag.
»Papa«, flüsterte Sarah und streckte ihre zitternden Hände aus. »Soll ich? Du mußt das nicht tun.«
»Nein … es ist ja das letzte Mal.«
Er ging langsam den nassen Hang hinab, vorbei an umgestürzten Bäumen und wilden Rosensträuchern. Die anderen folgten ihm in einer Reihe, und Bruchstücke ihres Trauergesangs hallten schaurig von den Felswänden wider. Als sie die Höhlen erreichten, hing die Sonne wie ein karmesinroter Ball über den Bergspitzen, und das Licht der Abenddämmerung verweilte zögernd auf den Klüften und Spalten der Klippen.
Ornias ging gemächlich zur Feuerstelle seines Schlafraums hinüber und lauschte dabei dem Wind, der draußen in der Nacht mit sich selbst Fangen spielte und durch die Ritzen neben den Fenstern pfiff. Das Feuer im steinernen Kamin knisterte und prasselte und warf unheimlich flackerndes Licht über die Rundbögen in den Wänden und die gewölbte Decke.
»Ist das alles, Ratsherr?« erkundigte sich Shassy und blickte verlangend zur Tür hinüber. Sie wollte gehen, und zwar so schnell wie möglich.
Ornias, der ein Glas mit feinem kayanischem Sherry in der Hand hielt und es sanft schwenkte, betrachtete sie bewundernd. Sie war eine schöne schwarze Frau mit hohen Wangenknochen und einer Adlernase. Ihr schmalen Lippen preßten sich verächtlich zusammen, als sie seinen Blick bemerkte.
»Können wir uns nicht noch ein Weilchen unterhalten?«
»Ich muß jetzt wirklich gehen.« Der seidige Stoff ihrer grünen Robe schimmerte im goldenen Licht der Flammen, als sie sein Eßgeschirr zusammenräumte. Glas klirrte gegen Metall, während sich die Stille dehnte. Shassy war eine großgewachsene Frau mit einem geschmeidigen Körper und vollen Brüsten. Dicke schwarze Locken fielen auf ihre Schultern herab. Doch am meisten faszinierten ihn ihre Augen, die ihn anzogen wie ein verwundetes Kaninchen den Wolf. Schwarz wie die Nacht waren diese Augen, und Haß auf ihn und Furcht loderten darin. Jetzt allerdings, da sie steif und hoch aufgerichtet neben seinem Bett stand, schien sie Trotz auszustrahlen. Er lächelte, denn er fand diese Haltung gleichermaßen verlockend wie amüsant.
»Du hast gesagt, deiner Meinung nach würden die Rebellen zurückschlagen. Wie kommst du darauf?«
»Ich habe das nicht gesagt, Ratsherr«, erklärte sie abwehrend und wich seinem Blick aus.
»Du hast gesagt: ›Sie haben das Recht, sich selbst zu schützen.‹ Hast du damit eine Rebellion gemeint?«
»Nein.«
»Also gut. Was hatte es dann zu bedeuten?« drängte er. Ihm war bewußt, daß sie es verabscheute, mit ihm zu reden – und genau deshalb genoß er die Situation um so mehr. Er lehnte sich an den Kamin und nippte an seinem Sherry.
»Ich … ich wollte damit nur ausdrücken, daß es zur menschlichen Natur gehört, angesichts einer Bedrohung zusammenzuströmen.«
»Aha. Und du glaubst, sie sammeln sich, um uns anzugreifen. Nun ja, ich würde das auch nicht in Zweifel ziehen. Sie haben einen bemerkenswerten Hang zu selbstmörderischen Aktionen. Ich hoffe nur, sie …«
»Selbstmörderisch?« fragte sie ungläubig. Ihr hübsches Gesicht wurde hart, und sie knallte ein halbvolles Weinglas auf das Tablett. »Sie sind verzweifelt. Sie haben ihnen diesmal einen derart harten Schlaf versetzt, daß
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