Die Gamant-Chroniken 01 - Das Licht von Kayan
schimmerten die dahintreibenden Wolken wie polierter Karneol.
Rachel, Sybil, Talo und Colin beobachteten aus der Deckung heraus die langen Reihen der Gottesdienstbesucher, die in den neuen Tempel von Milcom strömten. Das an einem Hang im Zentrum von Seir gelegene hexagonale Gebäude erhob sich zweihundert Fuß hoch in die trockene Luft und leuchtete golden im staubgeschwängerten Licht der Abenddämmerung. Der Hauptteil des Gebäudes, eine riesige gläserne Kuppel, die die Architekten das ›Gewölbe des Himmels‹ genannt hatten, reflektierte die Sonnenstrahlen und sah aus wie ein großer, blutig verschmierter Fleck.
Rachels Herz schien sich zu verkrampfen, als sie die Anzahl der Wachen feststellte. »Sie müssen ihre Kräfte rings um den Tempel verdreifacht haben.«
»Spielt keine Rolle. Talo und ich brauchen heute nacht nicht lange.«
Rachel nickte und schaute zu den Gläubigen hinüber, die sich vor dem Eingang zusammendrängten. Freunde. Verwandte. »Feinde. Verräter, die dabeigestanden und zugeschaut haben, als wir niedergemetzelt wurden.«
»Heute nacht«, flüsterte Colin wild. Ein grausames Lächeln verzerrte seine scharfgeschnittenen Züge. »Heute nacht segnen sie das Bauwerk und weihen es Milcom.« Wind heulte durch die Gasse und zerrte an den grauen Lumpen, die Colin trug.
»Shoah … Shoah … das Ende aller Dinge«, stöhnte Talo und schlug die Hände vor sein faltiges Gesicht.
Rachel neigte den Kopf. Sie empfand eine so tiefe Müdigkeit, daß ihr Bewußtsein sie nicht ausloten konnte. Die Ereignisse der Vergangenheit schienen in weite Ferne gerückt und sich zu einem einzigen Alptraum vermischt zu haben, der nicht in diese Realität gehörte.
»Wir kämpfen für das, was rechtmäßig unser ist«, sagte Colin scharf.
»Aber können wir nicht warten, bis der Tempel leer ist? Dann …«
»Geh heim, Talo«, murmelte Rachel und schaute auf den dicken Verband um seinen Leib, der sein braunes Gewand ausbeulte. Er hatte Glück, noch am Leben zu sein. Der Schuß des Marine hatte haarscharf seine Niere verfehlt. Er war noch geschwächt, und seine Leistungsfähigkeit und Ausdauer ließen sich kaum genau einschätzen. »Das Finale ist bereits vorbereitet. Wir können es auch ohne dich tun.«
»Nein. Ich … ich kämpfe auch für Epagael. Gesegnet sei der Name des Wahren Gottes.«
Als die Sonne tiefer sank, drang das Licht zwischen den engstehenden Häusern hindurch und malte düstere rote Streifen auf ihre Gesichter. Rachel erschauerte. Die abendliche Brise trug bereits den Hauch des Winters mit sich.
»Mommy«, murmelte Sybil ängstlich und blickte von einem Erwachsenen zum anderen. »Mir ist kalt. Laß uns heimgehen. Können wir nicht einfach nach Hause gehen? Ich will nicht in den Tempel des Mashiah.«
Rachel strich ihre geliehene pfirsichfarbene Robe glatt. Die kayanische Seide schimmerte im schwindenden Licht, und die Perlen an Saum und Kragen erstrahlten wie kleine kristallene Tränen. Sie hob ihren Schleier und befestigte ihn so, daß er ihr Gesicht bedeckte. Dann kniete sie nieder und tat das gleiche mit Sybils himmelblauem Schleier. Ihre Tochter blickte sie voller Angst an.
»Mom, warum müssen wir das tun? Wenn alles schon vorbereitet ist, warum müssen wir dann noch hineingehen?« Sie klammerte sich an der Schulter ihrer Mutter fest.
»Wir tun es einfach. Wir bleiben nicht lange dort, das verspreche ich dir. Erinnerst du dich noch, was ich dir gesagt habe?«
»Daß ich nicht reden soll?«
»Genau. Du tust einfach so, als wärst du schüchtern, in Ordnung?«
»Aber … Mom … Bitte, wir können sie doch auch von hier aus töten. Wir müssen nicht …«
»Pst, Liebes. Wir gehen hinein.«
Als Rachel sich erhob, packte Talo sie fest am Arm. Sein altes Gesicht drückte ernste Besorgnis aus. »Warum tust du das? Dort drinnen ist es gefährlich für dich.«
Rachel schüttelte die Hand ab und hielt seinem Blick stand. »Ich will sein Gesicht sehen.«
»Wenn du schon nicht an dich denkst, dann mach dir wenigstens Sorgen um deine kleine Tochter. Was ist, wenn du in die Panik hineingerätst?«
»Wir schaffen das schon.«
»Was bedeutet das Wort, Mommy?« flüsterte Sybil. Braune Locken lugten hinter ihrem Schleier hervor. »Panik?«
»Es bedeutet, daß die Menschen weglaufen werden.«
»Über uns drüber?«
»Nein, mach dir deswegen keine Sorgen, Baby. Wir werden ganz hinten im Tempel stehen, so daß wir als erste hinaus können, wenn die Leute in Panik geraten.«
Sybil schob die
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