Die Gamant-Chroniken 01 - Das Licht von Kayan
wäre sie durch eine andere Tür hereingekommen, doch jetzt war es zu spät. Sie stand nicht mehr als fünfzig Fuß von der blasphemischen Plattform entfernt, und wenn sie jetzt versuchte, mehr Abstand zu gewinnen, würde das nur Verdacht erregen.
»Stell dich hinter mich, Sybil«, flüsterte sie. Das Mädchen nickte, lehnte sich gegen die Wand und drückte ihre zitternden Knie gegen das linke Bein der Mutter. Rachel tätschelte ihr sanft die Wange.
Weiterhin strömten die Menschen herein, bis der Tempel aus allen Nähten zu platzen drohte. Rachel bemerkte zu spät, daß inzwischen mindestens fünfzehn Gottesdienstbesucher den Weg zwischen ihr und der Tür versperrten. Die meisten von ihnen waren große Männer. Sie würde sich ihren Weg freikämpfen müssen, wenn es an der Zeit war.
Als der Himmel sich verdunkelte, glühten Lampen im Innern des Tempels auf. Das sanfte Licht schimmerte auf violetten und elfenbeinfarbenen Seidenroben und wurde glitzernd von juwelengeschmückten Händen und Haarnetzen zurückgeworfen.
Plötzlich unterbrachen die Musikanten auf der anderen Seite des Tempels ihr Spiel und begannen ein neues, lauteres und aggressiv klingendes Stück.
Ornias betrat huldvoll lächelnd den Saal und schritt durch den Mittelgang zum Altar. Er war in rosa Satin gekleidet, und sein hellbraunes Haar und der Bart schienen im ockerfarbenen Licht der Lampen zu glühen.
Rachel verkrampfte sich innerlich. Ein furchtbares Zittern schüttelte sie und sie mußte die Augen schließen und all ihre Kraft aufbieten, um sich wieder unter Kontrolle zu bringen. Als sie die Augen öffnete, stand der Hohe Ratsherr majestätisch am Altar und schlug das dicke Buch auf, das dort auf einem Podest ruhte.
Das Raunen der Menge verstummte.
»Mein Volk«, sagte er salbungsvoll. »Wir sind in dieser Shabbatnacht zusammengekommen, um Milcom für diesen prachtvollen Tempel zu danken.«
Die Gläubigen murmelten unisono: »Möge der Name des Ewigen gesegnet sein jetzt und in alle Zeit.«
Ornias hob eine Faust über den Kopf, und seine Hand warf kobaltblaue Schatten auf die Wand hinter ihm. »Mit deiner unendlichen Liebe hast du uns beschenkt, o Herr und Gott. In deiner großen und überschäumenden Gnade hast du uns Vergebung zuteil werden lassen.«
»Gesegnet sei Milcoms Name.«
Rachel starrte blicklos vor sich hin. Vergebung? Gab es so etwas noch im Universum? Nach all dem Terror der letzten Tage berührte diese Zeremonie einen Teil in ihr, der sich nach dem Frieden zurücksehnte, den sie früher bei solchen Feiern empfunden hatte. O Epagael, warum hast du uns verlassen?
»Unser Vater! Unser König! Erleuchte unsere Augen, auf daß wir dein Gesetz erkennen können. Lehre uns, dem Weg deines gesalbten Erlösers zu folgen …« Ornias schloß die Augen und neigte den Kopf. Lampenlicht brach sich auf den Juwelen in seinem Haar. »Adom Kemar Tartarus. Schreibe seinen Namen in unsere Herzen, auf daß wir seinen Ruhm im ganzen Universum verkünden können.« Langsam ließ er die erhobene Faust auf das Pult herabsinken und blickte zum hinteren Teil des Tempels.
Ein großer, im Lampenschein wabernder Schatten erschien auf der Wand. Alle Köpfe drehten sich, und auf den Gesichtern zeigte sich Ehrerbietung. Adom betrat den Tempel, das Kinn emporgereckt und die Arme weit ausgebreitet. Das blaßblonde Haar fiel in Wellen über seine Schultern. Er hatte tiefliegende blaue Augen, hohe Wangenknochen und eine gerade Patriziernase. Das blitzende Silber seiner Robe ließ den inkarnierten Gott wie eine Säule aus fleischgewordenem Sternenlicht erscheinen.
Er glitt durch den Gang wie der Samen des Löwenzahns im sanften Morgenwind. Sanft lächelnd berührte er die Köpfe der Kinder, an denen er vorbeikam. Als er sich Rachel näherte, fing ihr Herz heftig zu pochen an. Sie senkte den Kopf und schaute zu Boden.
Er ging schweigend an ihr vorbei und betrat die Plattform, um seinen Platz hinter dem Podium einzunehmen. Ornias kam herunter und blieb keine drei Meter von Rachel entfernt stehen.
Tiefempfundene Liebe erfüllte Adoms Augen, als er seinen Blick über die versammelten Menschen schweifen ließ. »Baruch atta Milcom«, intonierte er, und seine tiefe Stimme schien selbst die Wände zu streicheln.
»Gesegnet sei sein Erlöser«, erwiderte die Menge.
Rachel zählte die Minuten. Wie lange noch? Sollte sie sich jetzt schon in Richtung Tür bewegen? Nein, es war besser, wenn sie wartete, bis Adom mit seinem Sermon begonnen und die Aufmerksamkeit
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