Die Gamant-Chroniken 01 - Das Licht von Kayan
wie eine Austernschale. Jeremiel seufzte und fuhr fort: »Ich glaube, wir …«
»Und was ist in diesen Schalen?«
»Das ist vermutlich die Preisfrage. Mit diesem kleinen Hand-Corder läßt sich das allerdings nicht feststellen. Eines aber ist klar: Was immer sich im Innern befindet, es emittiert Partikel in einer erstaunlich hohen Zahl.«
»Welche Art von Partikeln?«
»Jede Art.«
»Soll das ein Witz sein?«
»Ganz und gar nicht.« Er warf dem Wüstenvater ein müdes Lächeln zu. »Außerdem ist der Kern des Objekts extrem schwer.«
»Wie schwer?«
»Ungefähr«, murmelte er und überprüfte nochmals die Anzeige, »vier Milliarden Tonnen.«
Rathanials Gesicht verzog sich abschätzig. »Das ist lächerlich. Ich habe das Mea Shearim selbst schon gehalten. Es ist leicht wie eine Feder.«
»Ja … merkwürdig, nicht wahr?« Jeremiel betrachtete stirnrunzelnd den blauen Ball. »Ich frage mich, ob die Ionen von derselben Quelle gekühlt werden, die der Schwerkraft entgegen wirkt. Möglicherweise befindet sich das Objekt selbst aber auch gar nicht in unserem Raum. Vielleicht existiert die Masse in einem anderen Universum und wir sehen sie durch das ›Tor‹?«
»Gib es mir!« verlangte Rathanial, erhob sich von seinem Stuhl und streckte die Hand aus. »Bei der Ehrerbietung, die du dafür aufbringst, zerstörst du es noch.«
»Das würde ich bestimmt nicht versuchen«, sagte Jeremiel und gab es ihm. »Selbst in Anbetracht dieser unvollständigen Informationen bin ich ziemlich sicher, daß so ein Versuch katastrophal enden würde. Überdies hat Zadok mir aufgetragen, es seinem Enkelsohn Mikael zu geben. Denke also nicht, du könntest damit nach Horeb verschwinden …«
»Ich bin mit der Tradition durchaus vertraut.«
»Kennst du auch die Geschichte dieses Objekts? Mich würde interessieren, wann es aufgetaucht ist.«
Rathanial kehrte zu seinem Platz zurück und schob das Mea ehrfürchtig in seine Tasche. »Die Mythen, die sich darum gewoben haben, sind widersprüchlich. Einige Gelehrte behaupten, es könne bis zu den alten und inzwischen verlorenen Schriften Exodus und Deuteronomium zurückverfolgt werden. Dort wurden zwei heilige Steine, Urim und Thummim, erwähnt, die in die Brustplatte eines Priesters eingelassen waren. Wie es heißt, bedeuteten Urim und Thummim Erleuchtung und Vollkommenheit. Selbst damals wurden die heiligen Steine schon zur Erkundung des göttlichen Willens verwendet. Der einzige erhaltene Satz über sie lautet etwa folgendermaßen: ›Und du solltest einfügen in die Brustplatte der Gerechtigkeit das Urim und das Thummim, und sie sollen sein über Aarons Herz, wenn er vor den Herrn tritt‹.«
»Wer war Aaron?«
»Das weiß niemand mehr. Offenbar irgend ein Priester.«
»Seltsamerweise ist die Kette lang genug, um dafür zu sorgen, daß das Objekt immer über dem Herzen ruht«, sagte Jeremiel leise. »Welche Mythen berichten noch davon?«
»Oh, da gibt es Hunderte. Sinlayzans Volk nannte sie ›Donnersteine‹ und glaubte, sie seien mit dem Tor der Welt verbunden, dem loka-dvara, durch das eine Seele gehen muß, um ins Jenseits zu gelangen, wo immer das sein mag. Es gibt auch eine Geschichte, wonach Yacob, der Vater des Volkes, sich auf einem Stein schlafen legte, der sich an dem Ort befand, wo Himmel und Erde sich einander öffnen und Gott kam, um zu ihm zu sprechen.« Er hob achselzuckend die Hand. »Aber wer weiß schon, was wahr ist. Andere Gelehrte behaupten, die Existenz des Mea reiche nicht weiter zurück als bis zur Großen Kristallnacht.«
»Ich habe irgendwo im Hinterkopf einige Geschichten, die das Mea mit Indras Netz in Verbindung bringen. Kennst du eine dieser Erzählungen?«
»Nein, aber ich bin sicher, daß Zadok sie kannte. Erst kürzlich habe ich selbst gehört, wie er über Fragmente dieser Mythen sprach …«
Ein frostiger Windstoß fuhr durch die Tür in die kleine Höhle und löschte die Kerze. Dunkelheit senkte sich herab. Jeremiel war schon halb auf den Beinen, als vom Korridor her ein Schrei erklang, ein Schrei so voller Entsetzen, daß sein Herz für einen Schlag aussetzte.
»Lieber Gott«, flüsterte Rathanial. »Was …«
Jeremiels Hand glitt zu der Pistole, die an seiner Hüfte hing. Er zog sie, huschte zur Wendeltreppe und eilte die Stufen hinauf.
Ein zweiter Schrei folgte, eine Frau schrie in Panik auf. Dann erklangen Schritte, als ob jemand verzweifelt durch die Dunkelheit irrte.
»Sarah?« rief Jeremiel, und seine Stimme hallte hundertfach
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