Die Gamant-Chroniken 01 - Das Licht von Kayan
ihm. »Nehmen Sie die Hände hoch … So ist es gut. Und jetzt umdrehen. Ich will Ihr Gesicht sehen.«
Narr! Hast du dich so in deinem eigenen Kummer gewälzt, daß du ihr Näherkommen nicht bemerkt hast? Jeremiel schluckte den Kloß in seiner Kehle herunter und drehte sich um.
Der Marine zielte mit einem Gewehr auf seinen Magen. Er war jung, hatte rabenschwarzes Haar, harte grüne Augen und wirkte kampferfahren. Seine purpurne Uniform war schmutzig und an den Ärmeln abgetragen. Nicht gerade der Typ eines Leuteschinders. Er kam näher, und Jeremiel unterdrückte das Verlangen, seine Pistole zu ziehen und den Mann zu töten. Das Krachen des Schusses würde ganz Capitol aufschrecken. Dann dürfte er die nächsten zwei Monate in einem Versteck verbringen, und die Magistraten würden das Sicherheitsnetz um den Raumhafen noch engmaschiger machen. Und er würde nie von Kayan fortkommen.
Er lächelte nervös, breitete die Arme aus und kam dem Soldaten entgegen. »Worum geht’s denn, Lieutenant? Ich komme gerade von der Arbeit und will nach Hause.«
»Wir haben jedes Geschäft und jeden Haushalt benachrichtig. Tun Sie also nicht so, als wüßten Sie nichts von der Ausgangssperre. Wie heißen Sie?«
»Michael Schacter. Ich besitze ein eigenes Geschäft auf der anderen Seite der Stadt. Die meiste Zeit war ich in meinem Laden. Von der Polizei habe ich nichts gehört.«
Der Marine betrachtete Jeremiel prüfend und musterte jeden seiner Züge genau. In seinen Augen spiegelte sich Wiedererkennen. »Sie müssen mit zur Wache kommen. Wir …«
»Was?« fragte Jeremiel, kam noch näher und wappnete sich innerlich. »Ich habe eine Familie, die daheim auf mich wartet. Wie lange soll dieser Unsinn denn noch dauern?«
Der Finger des Marine spannte sich um den Abzugshahn seines Gewehrs und Jeremiel spürte, wie ihm ein Prickeln über den Rücken lief. »Wenn Sie nicht zurücktreten, Mister, kommen Sie vielleicht nie mehr nach Hause.«
»Ich gehe ja schon zurück.«
»Drehen Sie sich um und marschieren Sie in Richtung Raumhafen.« Er deutete mit dem Gewehr die Straße hinauf. »Ich bin direkt hinter ihnen.«
Jeremiel nickte schleunigst und ging in die silbernen Nebelschleier hinein, die über die Straße wirbelten. In der Ferne erhob sich eine Gruppe dürrer Kiefern neben einem dunkelgrauen Gebäude.
»Ich sehe nirgendwo Lampen brennen. Zu welchem Gebäude …«
»Gehen Sie einfach.«
»Ja, ja. Werden Sie nur nicht nervös.«
»Mit meinen Nerven habe ich keine Probleme.«
»Das freut mich zu hören.«
Als sie sich der Regierungseinrichtung näherten, tauchten längs der Straße Blumenbeete mit Efeu und wildem Wein auf. Der Wind pfiff durch die Bäume, die das Landefeld umgaben. Nah … sie waren nah.
Jeremiel duckte sich unter den überhängenden Zweigen einer kayanischen Eiche. Dichte Brombeersträucher bildeten eine nierenförmige Hecke zu seiner Rechten.
Als der Marine sich ebenfalls duckte, um ihm zu folgen, senkte er seinen Blick für einen Sekundenbruchteil. Jeremiel wirbelte herum und trat mit aller Kraft zu. Der Soldat stolperte zurück und landete im Brombeergebüsch. Ein ungezielter Schuß löste sich aus seinem Gewehr; der violette Strahl durchbohrte den Nebel, und das schrille Wimmern hallte von den Gebäuden wider.
Verdammt! Im ganzen Sektor schnappen sich jetzt alle ihre Gewehre und machen sich in diese Richtung auf! Jeremiel riß die Pistole aus der Tasche und sprang vorwärts, um den Soldaten zu erreichen, bevor der einen weiteren Schuß abgeben konnte. »Halt!« rief er.
Der Lieutenant hob gerade wieder das Gewehr, als Jeremiel ihn erreichte. Instinktiv schlug er den Lauf mit der Faust zur Seite, und das Gewehr flog auf die nasse Straße. Der Marine holte verzweifelt aus, schlug Jeremiel die Beine unter dem Körper weg und versuchte, ihm die Pistole zu entwinden.
»Du … kannst es nicht schaffen, Baruch«, keuchte der Soldat und stieß Jeremiel ein Knie in die Seite, während sie um die Waffe rangen. »Wir haben … überall Leute postiert.«
Panik raste wie Feuer durch Jeremiels Adern. Er wuchtete den Marine zur Seite, rollte sich auf ihn und versuchte, die Pistole so zu drehen, daß der Lauf auf den Kopf des Gegners zeigte. Auch wenn die Jungs in Purpur vielleicht nicht in der Lage gewesen waren, den Ursprungsort des Schusses anhand der Echos zu lokalisieren, würde ihnen ein zweiter Schuß sicher auf die Sprünge helfen. Und dann würde die gesamte Militärmacht Kayans über ihn kommen. Aber es
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