Die Gamant-Chroniken 02 - Die Rebellen von Tikkun
Laufplanke hinauf. Pavel packte Sekans Ärmel und zog sie in die Mitte der Gruppe, um ihr mehr Schutz vor den Schlägen zu bieten. Sie stieß einen leisen Schrei aus, kam aber mit.
Sie gelangten in einen großen ovalen Raum, in dem die Menschen dichtgedrängt standen. Es roch nach Schweiß und Angst. Irgendwo rezitierte jemand laut aus der Kedis. Pavel schloß sich ihm in Gedanken an und betete stumm, aber mit aller Inbrunst, die er aufbringen konnte. Hörst du uns, Gott?
Die Türen schlossen sich. Das Schiff hob ab und schoß in den Himmel hinauf. Pavel schaukelte Yael auf den Armen und sang ihr leise ein Schlaflied ins Ohr, doch statt zu schlafen, klammerte sie sich noch fester an ihn.
Pavel lächelte sie an, obwohl er lieber laut geschrien und um sich geschlagen hätte. Wo war sein Vater? Was würde aus ihrem Heim werden? Würden die Marines die Familien trennen, oder durften sie zusammenbleiben? Lieber Gott, laß nicht zu, daß sie uns trennen! Alles, nur das nicht. Wie lange würde diese Tortur noch dauern? Wo war Karyn? Tot? Oder hatte sie es bis zu ihren Freunden in der Untergrundbewegung geschafft und plante jetzt schon ihre Rettung?
Ja, natürlich, so mußte es sein. Hoffnung keimte in ihm auf. Sicher würden die Widerständler eingreifen, bevor die Marines ihnen etwas antun konnten. Baruch und seine Leute würden sie nicht den Magistraten überlassen, sondern so schnell wie möglich herkommen.
Eine Stunde lang raste die Landschaft von Tikkun unter ihnen vorbei, dann setzte das Schiff zur Landung an. Vor ihnen lag ein öder Streifen der yaguthischen Wüste, der im Licht der untergehenden Sonne korallenrot leuchtete. Felsige Hügelketten warfen lange, blauschwarze Schatten über den Sand.
Ein Mann drängte sich durch die Menge, flüsterte hier und dort mit den Menschen, oder redete gelegentlich auch mit einiger Schärfe auf sie ein. Er war klein und dünn und wirkte auf nicht genau bestimmbare Weise wie ein hungriges Wiesel. Pavels Magenmuskeln verkrampften sich, als er näherkam.
Die Stimme des Mannes klang rauh und heiser, als er sagte: »Sie haben aber ein nettes kleines Mädchen.«
»Danke.«
»Wenn Sie ins Lager kommen – dann ist das ein Junge. Verstehen Sie?«
»Nein.« Pavel schüttelte verwirrt den Kopf. »Sie ist doch …«
»Seien Sie kein Narr! Sie ist ein Junge und unter zwölf.«
»Aber … das ergibt doch keinen Sinn. Warum sollten wir …«
Pavel verstummte, als Jaspers Hand sich auf seinen Arm legte. Er wandte sich um und sah Großvater fragend an. Das Gesicht des alten Mannes trug den Ausdruck tiefen Kummers.
»Wir haben verstanden«, sagte Jasper leise. »Danke, daß Sie uns darauf hingewiesen haben.«
Der Mann nickte, warf Sekan einen bekümmerten Blick zu, schüttelte den Kopf und eilte dann weiter, um andere Eltern mit kleinen Kindern zu suchen.
Pavel runzelte die Stirn. Welche Bedeutung konnten Geschlecht und Alter eines Kindes schon haben in einem … Arbeits … Lager … Langsam begriff Pavel. »O nein.« Er zog seine Tochter enger an sich.
»Was hat er damit gemeint?« fragte Sekan verwirrt. Ihr rotes Haar hing aufgelöst und in Strähnen herab. »Jasper?«
»Schnell«, sagte Großvater und holte seinen Schlüsselring heraus, an dem eine kleine Schere befestigt war. »Wir müssen Yaels Haar schneiden. Wenn sie wie ein Junge aussieht, wird sie vielleicht nicht genau untersucht.«
»Ja, du hast recht.« Pavel setzte Yael auf den Boden und strich ihr die braunen Locken aus dem Gesicht.
»Jasper …?«
»Pst, Sekan. Wir sprechen später darüber.«
Yael schaute zu Pavel hoch, als wäre das Ende der Welt gekommen. Er hätte sich selbst ohrfeigen mögen. Natürlich war ihr die Angst in seiner Stimme nicht entgangen. Er zwang sich zu einem Lächeln und streichelte ihr die Wange.
»Keine Sorge, Liebes. Es gibt nichts, wovor du Angst haben müßtest.«
»Willst du mein Haar abschneiden?« fragte sie und tastete nach ihren Locken, während ihr Tränen aus den Augen liefen.
»Ja, aber es wird ganz schnell nachwachsen, und dann bist du wieder so hübsch wie früher. Kannst du so tun, als wärst du ein Junge? Du mußt dann aber viel gemeiner sein als jetzt.«
»Du schimpfst doch immer mit mir, wenn ich gemein bin.«
»Diesmal nicht. Großvater, gibst du mir die Schere?«
Jasper reichte sie ihm, und Pavel schnitt rasch die Haare des Mädchens ab. Als er fertig war, begutachtete er sein Werk.
»Du bist immer noch hübsch«, meinte er. »Aber jetzt siehst du fast wie
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