Die Gang: Roman (German Edition)
faltete es auseinander. Im matten bläulichen Licht der Dämmerung konnte Jeremy sehen, dass es sich um eine grobe, mit Kugelschreiber gezeichnete Skizze handelte. Shiner studierte sie stirnrunzelnd. Dann bog sie nach links ab und fuhr langsam die Straße entlang.
Jeremy konnte keine Häuser sehen. Nur Wald und ab und zu eine Einfahrt mit einem Briefkasten daneben. Die Häuser waren wohl hinter den Bäumen versteckt und weit von der Einfahrt entfernt.
»Wie hast du Tanya kennengelernt?«, fragte er, weil er vom Thema der »Anbetung« wegkommen wollte. »Du gehst nicht auf dieselbe Schule, und sie wohnt … wohnst du etwa auch hier?«
»Um Gottes willen, nein. Ich lebe in … deiner Nachbarschaft. Ich habe sie getroffen, als ich die Trolljäger aufspüren wollte. Die ganze Stadt redete über sie – und den Großen Groben Griesgram Billy. Ich habe mich nachts rausgeschlichen und sie ziemlich bald gefunden. Ich habe ihnen einfach erklärt, dass ich mitmachen wollte, und warum …«
»Wegen deiner Schwester?«
»Genau. Und ich musste die Einweihung mitmachen. Seitdem war ich immer mit dabei.«
»Waren es immer dieselben Kids?«
Sie nickte. »Überwiegend. Ein paar sind weggezogen, und Randy war damals noch nicht mit dabei. Er kam dazu, nachdem ihn Tanya aus dem Wasser gezogen hat. Sie hat Mund-zu-Mund-Beatmung gemacht, und er wachte auf und nahm an, er sei tot im Himmel. Er ist seitdem einer ihrer Anbeter.«
Shiner bremste. Sie spähte durch die Windschutzscheibe zu einem Straßenschild hin und zog dann wieder die Skizze zurate. »Okay, hier ist Avion«, sagte sie und nickte nach rechts. »Es müsste jetzt die dritte Einfahrt sein.« Sie fuhr weiter.
Die dritte Einfahrt lag auf der linken Straßenseite und führte steil den Hügel hinauf. Shiner schaltete in den ersten Gang, bog in die Einfahrt ein und fuhr langsam nach oben. Jeremy war sich nicht sicher, was er oben auf dem Hügel erwartete. Ein Blockhaus oder Cottage könnte passend sein. Aber als die Steigung sanfter wurde und der Wald sich lichtete, sah er etwas, das sehr nach einer Südstaatenvilla aussah – komplett mit Veranda und weißen Säulen. Er nahm an, dass es kleiner war als die richtigen Südstaatenvillen, aber für Boleta Bay war es schon ganz schön groß.
Man hatte vermutlich die gesamte Hügelkuppe wegplanieren müssen, um Platz für das Haus zu schaffen, für die Dreiergarage und den Garten. Der Weg, auf dem sie kamen, führte um den Rasen herum zu einem gepflasterten Hof neben der Garage. Dort standen schon fünf andere Autos. Shiner hielt neben einem Jeep, der eine Südstaatenfahne an der Antenne hatte.
Sie nahm Jeremys Hand, als sie auf die Veranda zugingen. Ihre Hand fühlte sich feucht an.
Sie ist tatsächlich ziemlich nervös, dachte Jeremy. Warum? Was glaubt sie denn, was passieren wird? Am Ende der Treppe standen sie vor einer zweiflügeligen Eichentür. Jeremy drückte die Klingel. Von drinnen hörte man Glocken die ersten Töne von My Old Kentucky Home spielen.
»Kommen sie aus den Südstaaten?«, fragte Jeremy.
»Keine Ahnung. Tanya jedenfalls nicht. Sie ist hier aufgewachsen.«
Der rechte Türflügel öffnete sich.
»Howdy, ihr zwei.« Cowboy schlug ihm auf die Schulter. »Lange nicht gesehen, Partner.« Die gesamte rechte Seite seines Kopfes war unter einem gewaltigen Verband verborgen, mit einer großen Ausbuchtung, wo sein Ohr sein musste. Er trug seinen alten, abgenutzten Stetson. Auch seine Arme waren verpflastert, und Jeremy konnte ein paar weitere Verbände durch den dünnen Stoff seines T-Shirts sehen.
»Immer rein mit euch, Leute. Auf zur Party.« Sie folgten ihm durch die Halle, und er sagte: »Ich höre, ihr habt gestern Nacht einen Troll erlegt. Echt heiß, und ich war nicht dabei!«
»Wie fühlst du dich?«, fragte Shiner.
»Als wäre ich gegen eine Wand gerannt.«
Er führte sie eine Treppe hinunter in einen riesigen, mit Teppichen ausgelegten Raum, mit holzgetäfelten Wänden, einem Billardtisch und einer Bar am anderen Ende. Alle Trolljäger waren da.
Jeremy hielt nach Tanya Ausschau. Er erspähte sie, wie sie sich über den Billardtisch beugte und zielte. Sie war barfuß, trug weiße Shorts und ein zu großes Hemd, das die Shorts beinahe bedeckte. Das Hemd war leuchtend blau und gelb kariert. Wenn sie sich vornüberbeugte, so wie jetzt, berührte seine Vorderseite nicht einmal ihren Körper.
Karen stand neben Nate auf der anderen Seite des Tisches und sah aus, als wollte sie in Tanyas Ausschnitt
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