Die Gang: Roman (German Edition)
Tasche seiner Cordhose. Aus der untersten Schublade des Schreibtischs holte er Tanyas Rasierklinge. Behalte sie, um dich zu erinnern, hatte sie gesagt. Die Rasierklinge war noch immer in sein Taschentuch gewickelt. Der weiße Stoff war voller getrockneter brauner Blutflecke.
Er packte die Klinge aus und sah sie sich an.
Erinnerungen an die vergangene Nacht tauchten auf und erfüllten ihn mit Angst und Begierde.
Wer braucht eine Rasierklinge, um sich zu erinnern?, dachte er. Wer wird das schon jemals vergessen? Aber Tanya hatte ihn gebeten, die Klinge bei sich zu tragen.
Er wickelte die Klinge wieder ins Taschentuch und steckte sie in eine Hosentasche.
Dann rollte er die Kleidungsstücke zusammen und schob das Bündel unter sein Bett. Er warf den Bademantel über eine Stuhllehne, machte das Licht aus und legte sich ins Bett.
Die Leuchtziffern der Uhr auf seinem Nachttisch zeigten, dass es elf Uhr fünfzehn war. Noch eine halbe Stunde, bis er sich anziehen und hinausschleichen musste.
Die Minuten schleppten sich dahin.
In seinem fieberheißen Kopf wirbelten Bilder. Tanya und Shiner. Ihre Gesichter, ihre Körper, ihr Geruch, ihre Stimmen. Shiner und Tanya. Und dazwischen sah er den Troll vom Riesenrad fallen, Tanya, wie sie seine gebrochenen Beine gerade zog, sich selbst, wie er den Finger des Kerls brach, um ihn für seinen Schlag auf Shiner zahlen zu lassen. Er sah Jaspers Kuriositätenkabinett, Cowboy, wie er das Glas mit dem Fötus schüttelte, die große schreckliche Spinne, die ledrigen Überbleibsel der Mumie, Cowboys Bemerkungen, den Kampf und wie er dem Mädchen das Top runterriss und ihre Brüste anfasste. Und Karen, wie sie auf der Party getanzt hatte, schweißnass, in ihrem durchsichtigen BH und Höschen. Die trockene, amüsierte Stimme des Trolls, der aus der Dunkelheit unter der Promenade »Da haste recht« gesagt hatte. Aber all die anderen Bilder führten ihn immer wieder zurück zu Tanya, zu Shiner. An Shiner zu denken tat weh und erfüllte ihn mit Schuldgefühlen. Die Gedanken an Tanya dagegen verursachten heftige, quälende Begierde. Er wollte sie haben, er sehnte sich nach ihr. Er fühlte sich schmutzig, weil er sie Shiner vorgezogen hatte. Und er hatte Angst.
Das Geräusch von Schritten im Flur erlöste Jeremy aus dem finsteren Wirbel seiner Gedanken. Er hörte eine Tür klappern, Wasser rinnen, die Toilettenspülung gehen und schließlich, wie seine Mutter auf dem Weg in ihr Schlafzimmer an seiner Tür vorbeiging.
Elf Uhr fünfunddreißig.
Er wartete darauf, dass die Minuten vergingen, und war jetzt damit beschäftigt, zu überlegen, wie er hinausschleichen könnte. Aber zwischendurch fragte er sich immer wieder ängstlich, was wohl bei seinem Rendezvous mit Tanya geschehen würde.
Um Viertel vor zwölf stand er leise auf. Er stopfte Schlafanzug und Bademantel unter die Decke. Nackt und frierend kniete er sich neben das Bett und holte das Kleiderbündel hervor. Dann setzte er sich auf den Teppich und zog sich an.
Er schlich zur Tür und öffnete sie vorsichtig. Der Flur war dunkel, auch vor der Tür seiner Mutter. Aber er befürchtete, dass sie noch nicht schlief. Mit angehaltenem Atem und heftigem Herzklopfen ließ er die Fingerspitzen an der Wand entlanggleiten, um den Weg zu finden. Auf seinen Gummisohlen schlich er lautlos durch den Flur.
An der Haustür schob er die Kette aus ihrer Halterung und ließ sie vorsichtig nach unten gleiten. Er drehte den Türknauf. Das Schnappschloss machte ein dumpfes, leises Geräusch. Er öffnete die Tür, trat auf die Veranda hinaus und zog die Tür vorsichtig hinter sich zu.
Draußen war die Straße hell erleuchtet. Ein paar Autos parkten am Randstein. Eines davon konnte Tanyas Wagen sein. Er wusste jedoch, dass er zu früh war. Vielleicht war sie noch nicht angekommen.
Vielleicht würde sie überhaupt nicht kommen.
Der Gedanke erfüllte ihn gleichzeitig mit Hoffnung und schrecklicher Qual.
Vorsichtig schloss er die Verandatür zu und stieg die Treppe hinunter.
Wenn sie nicht auftaucht, dachte er, könnte ich zu Shiner hinübergehen.
Ich habe meine Meinung geändert. Kann ich reinkommen?
Zum Teufel, ich weiß doch nicht mal, wo sie wohnt! Gegenüber blendeten die Scheinwerfer eines parkenden Autos auf und wieder ab.
Jeremys Herz machte einen Sprung.
Er beeilte sich. Aber auf dem Bürgersteig blieb er stehen und blickte zurück zu seinem Haus, halb in der Hoffnung, zu sehen, dass Lichter angingen, die Tür aufgerissen wurde und seine
Weitere Kostenlose Bücher