Die Gartenparty
dann hatte sie über fünf Stunden geschlafen. Fünf Stunden Schlaf waren genug für Masters, der niemals sehr gut schlief, aber vermutlich nicht für Agnes Morrow, die vermutlich sehr gut schlief. Er beschloß, es trotzdem zu versuchen und stieg aus. Auf der Orientierungstafel in der Halle suchte er Agnes Morrows Appartementnummer, ging hinauf und klingelte.
Er hatte Glück. Schwester Morrow war auf, wenn auch nicht angezogen. Das heißt, sie war in Schlafanzug und Bademantel, welch intime Aufmachung jedoch auf Masters keineswegs stimulierend wirkte. Agnes Morrow hatte seit über vierzig Jahren erfolgreich ihren Junggesellinnenstatus verteidigt und machte den deprimierenden Eindruck, das gleiche mit ihrer Keuschheit getan zu haben. Dürr, grauhaarig und nüchtern. Sie sah aus, als sei ihre Rede kurz und bündig und dem Bellen einer Bulldogge nicht unähnlich. Und so war es denn auch.
»Bitte?«
»Miss Agnes Morrow?«
»Bin ich.«
»Mein Name ist Masters. Leutnant. Kriminalpolizei. Ich möchte Sie sprechen. Die Angelegenheit ist vertraulich.« Seine kurze, bündige Redeweise war eine automatische Reaktion auf die ihre. Masters besaß die Wandlungsfähigkeit eines Chamäleons, eine Eigenschaft, die ihm in seinem Beruf sehr zustatten kam.
»Treten Sie ein.«
Masters setzte sich auf die Kante des grauen Sofas, während Miss Morrow einen unbequemen, hochlehnigen Armstuhl wählte. Sie saß kerzengerade, ohne die Lehne des Stuhls zu berühren, und sie packte die Armstützen, als sei sie bereit, beim ersten Anzeichen einer Attacke auf ihre Jungfräulichkeit sofort auf die Füße zu springen.
»Im Krankenhaus sagte man mir«, begann Masters, »daß Sie von elf Uhr abends bis sieben Uhr morgens Dienst haben.«
»Das stimmt.«
»Und in der Nacht vom vergangenen Samstag auf Sonntag waren Sie ebenfalls im Dienst?«
»Selbstverständlich. Ich habe seit fünfzehn Jahren nicht einmal den Dienst versäumt.«
»Sie hatten, glaube ich, während jener Nacht eine Entbindung?«
»Wir hatten zwei Entbindungen.«
»Ich meine die, zu der Dr. Jack Richmond als behandelnder Arzt zugezogen wurde?«
»Ach ja. Die Wehen waren langsamer als wir annahmen, als wir Doktor Richmond anriefen. Er mußte etwa zwei Stunden im Krankenhaus warten.«
»Den Eintragungen zufolge war er genau zwei Stunden und zehn Minuten dort.«
»So genau gebe ich nicht acht.«
»Darüber wollte ich mich mit Ihnen unterhalten. Sind Sie sicher, daß Dr. Richmond die ganze Zeit im Krankenhaus war?«
»Gewiß.«
»Hatten Sie ihn ständig unter Beobachtung?«
»Natürlich nicht. Ich bin viel zu beschäftigt, um jemanden ständig zu beobachten.«
»Aber Sie sagten doch, Sie seien sicher, daß er die ganze Zeit dort war.«
»Ich sagte, ich sei sicher, aber ich habe nicht gesagt, daß ich es beweisen kann. Als Dr. Richmond sah, daß er warten mußte, fragte er mich, ob wir ein Bett frei hätten, damit er sich hinlegen könne. Am Ende des Ganges war ein freies Privatzimmer, und ich sah ihn hineingehen. Als ich ihn eine Stunde später holen ging, war er ebenfalls da. Ich habe keinen Grund zu der Annahme, daß er das Zimmer zwischendurch verlassen hat.«
»Er ging also direkt in das Zimmer, nachdem Sie ihm gesagt hatten, es sei frei?«
»Zuerst rief er noch seine Frau an und teilte ihr mit, daß er noch aufgehalten werde. Dann ging er in das Zimmer.«
»Sie sagen, dieses Privatzimmer liegt am Ende des Ganges. Gibt es dort eine Treppe?«
»Jawohl.«
»Führt die Treppe zu einem Ausgang?«
»Ja. Die Tür ist bei Nacht verschlossen, doch von innen ist sie zu öffnen.«
»Kann man das Schloß so einstellen, daß man die Tür von außen öffnen kann?«
»Nicht ohne Schlüssel.«
Aber, dachte Masters, man kann sie angelehnt lassen. Ein Stock, ein gefalteter Papierbogen, irgend etwas zwischen Tür und Schwelle geklemmt, würde genügen.
»Dr. Richmond ist also zwischen dem Zeitpunkt, als er das Zimmer betrat und dem, als Sie ihn zu seiner Patientin holten, nicht gesehen worden?«
»Ich habe ihn nicht gesehen, nein.«
»Hat ihn sonst jemand gesehen?«
»Ich habe keine Ahnung. Hören Sie mal«, fuhr Schwester Morrow ihn an, »warum stellen Sie mir all diese Fragen über Dr. Richmond? Ich pflege mich nicht über unsere Ärzte auszulassen.«
»Aber natürlich nicht«, beruhigte Masters sie. »Wir haben es hier jedoch mit einem Kriminalfall zu tun, Miss Morrow.«
»Mit was für einem Kriminalfall? Ich habe das Recht zu erfahren, warum ich ausgefragt
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