Die Gassen von Marseille
Mädchen verlor auch Agostino von Tag zu Tag mehr von seiner Lebensfreude und Fröhlichkeit. Seine Wangen nahmen eine schmutzig graue Farbe an. Dunkle Ringe lagen unter seinen Augen. Er lachte und scherzte nicht mehr. Eines Morgens werden die novis in aller Früh von lautem Sirenengeheul geweckt. Pioniere der Wehrmacht verkünden damit den Beginn der Zerstörung der Gebäude. Zehntausend Menschen landen durch diese stürmische Aktion auf der Straße. Siebzehn Tage lang erschüttern Explosionen das kuschelige Heim der Verliebten. Zwischen Saint-Laurent und der Augustinerkirche werden eintausendneunhundert Häuser dem Erdboden gleichgemacht. Vierzehn Hektar finstere Ruinen … Zwischen den Explosionen hört man die ununterbrochen läutende Totenglocke. Abbé Cayol, der Pfarrer von Saint-Laurent, beweint so das Verschwinden seiner Pfarre.
Am 17. Februar herrscht plötzlich Stille.
Kein Laut mehr.
Sie ist erleichtert, denn allmählich wird sie verrückt. Schon länger kann sie nicht mehr schlafen, und wenn sie doch einschläft, hat sie fürchterliche Albträume, aus denen sie erschöpft und kraftlos hochschreckt. Tagsüber sieht sie die Bilder eines alten, verschwundenen Marseille vor sich … Sie erinnert sich an ihre früheste Kindheit, das Baden an der Plage du Prophète. An die Sirenen der Ozeandampfer, die in eine andere Welt ausliefen, an die Geburt ihrer Schwester, an die Freude ihrer Eltern, an das hölzerne Pflaster in der Rue »Saint-Fé« und daran, wie die Schuhe klapperten, wenn man darüberlief. An bizarre Details … So hört sie in einer Halluzination etwa das durchdringende Läuten der Laterne an der Kreuzung am Alten Hafen, das bis 1937 die Ampel begleitete. Jedes Mal, wenn die Ampelfarbe wechselte, schlug ein Klöppel schwungvoll mehrere Sekunden lang eine Glocke, sodass niemand behaupten konnte, er hätte das Licht nicht gesehen! Dieses schrille Läuten verfolgt sie unentwegt …
Eines Tages hält sie es nicht mehr aus.
»Ich muss hier raus.«
Die schöne Wintersonne scheint durch das einzige Fenster ins Zimmer. Agostino sieht sie überrascht und verlegen an. Er kann nach draußen gehen, wenn er vorsichtig ist, aber sie … Behutsam nimmt er ihre Hände. Sie ist bleich vom vielen Weinen und den schlaflosen Nächten. Ihrem flehenden Ton kann er nicht widerstehen.
»Na gut, meinetwegen, komm …«
Er weiß, dass es gefährlich ist, aber …
Für einen Moment ist sie zufrieden.
Sogar außer sich vor Freude. Endlich wieder die Sonne sehen, die Menschen … Blitzschnell ist sie angezogen und zieht ihn die Treppe hinunter. Sie fliegen die Stufen hinab. Die Rue de la République … Die Sonne! Endlich … Sie lässt ihr Gesicht von den Strahlen liebkosen. Genießerisch schließt sie die Augen, das tut so gut! Es sind nicht viele Menschen draußen, aber hier ist die Sonne, warm, leuchtend, Quell des Lebens …
Doch plötzlich … die Katastrophe.
Ein schwarzer Citroën bremst direkt vor ihnen. Zwei Männer in langen Ledermänteln steigen aus. Sie schauen sie finster an. Die SS! Der junge Maurer reagiert sofort.
»Lauf!«
»Halt, Polizei!«
Sie rennen, so schnell sie können, in die dem Verkehr entgegengesetzte Richtung. Plötzlich versperren ihnen zwei französische Gendarmen den Weg und zielen mit ihren Waffen auf sie. Keuchend bleiben sie stehen. Brutal werden sie in den Wagen gestoßen und in ein nobles Stadtviertel gebracht … Der Citroën 15 fährt auf das Gelände einer Villa, deren Tor von uniformierten deutschen Soldaten bewacht wird. Auf der Marmortafel liest sie »Villa Ben Quillado«. Während der ganzen Fahrt haben die schwarz gekleideten Männer sie nicht eines Blickes gewürdigt … Voller Angst halten sie sich an den Händen. Sie haben nichts getan! Die Soldaten lassen sie aussteigen und stoßen sie grob in eine große Eingangshalle. Dort stehen ungefähr zwanzig verängstigte junge Mädchen unter einem imposanten Kristalllüster versammelt. Sie blicken zu den Neuankömmlingen. Agostino versucht, mit ihnen zu sprechen.
Da kommt der deutsche Soldat auf ihn zu und schlägt ihm eiskalt mit dem Gewehrkolben gegen die Schläfe. Ohnmächtig sackt der Junge zusammen.
»Agostino!«
Sie wirft sich auf den leblosen Körper. Wieder hebt der Deutsche sein Gewehr. In dem Moment öffnet sich eine Tür. Ein uniformierter SS-Offizier kommt heran und hält den Soldaten am Arm fest.
»Was soll das? Was ist hier los?«
Er hat schönes, silbriges Haar. Eine zickzackförmige Narbe zieht sich
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