Die Gassen von Marseille
seinen Chef.
»Wir müssen erst einmal abwarten. Niemand weiß, wohin sie gebracht werden … Vielleicht nach Les Baumettes, vielleicht Arenc, um da einen Konvoi nach … Ich weiß es nicht …«
Sie hören zu, wie der Kaffee durch die Maschine rinnt. Mario füllt die Tassen. Schweigend trinken sie. Die Tränen laufen nicht länger über ihr Gesicht. Sie ist wie betäubt, völlig benommen. Sie will aufstehen, aber Agostino hält sie zurück und legt die Arme um sie. Mario schüttelt sich.
»Also gut, die Baustelle ist vorerst stillgelegt, ich weiß nicht wie lange … Du kannst deinen freien Tag nehmen, Kleiner. Rührt euch nicht vom Fleck, ich schicke meine Frau hoch, damit sie euch was zu essen bringt. Wenn ich etwas Neues höre, lasse ich es euch wissen …«
Sie hören ihn im Treppenhaus die Menschheit verfluchen.
Stumm schauen sie sich an. Was soll aus ihnen werden? Warum richtet sich der Zorn der Sieger gegen das alte Viertel von Marseille? Sie hört immer noch, wie Louis Gillet, das Mitglied der Académie Française, seinen Hass auf den Panier und seine Bewohner herausschreit:
»Auf der Colline des Accoules, zwischen dem Rathaus und der Kathedrale schwärt ein obszöner Eiter, eine der unreinsten Kloaken, in der sich der ganze Abschaum des Mittelmeers sammelt. Das ist der traurige Ruhm von Marseille!«
Die Woche vergeht. Sie lesen die Bücher, die Marios Frau ihnen bringt. Sie nutzt die Gelegenheit und beginnt mit Agostinos Hilfe, Italienisch zu lernen. Ihre Stimmung wechselt von grau zu tiefschwarz. Ein Gedanke kreist unablässig in ihrem Kopf wie ein in seinem Rad gefangener Hamster … Sie fühlt sich schuldig am Verschwinden ihrer Eltern, auch wenn sie im Grunde weiß, dass das nicht stimmt. Wenn sie bloß da gewesen wäre … Sie hat nur an sich selbst gedacht, an ihr Vergnügen, während ihr Vater, ihre Mutter, ihre Schwester … Wo sind sie? Freunde von Mario, Beamte bei der Polizei, haben ihm erklärt, dass die Juden erst nach Fréjus und dann nach Compiègne gebracht worden sind. Mehr wussten sie auch nicht. Sie betet nicht, denn sie ist nicht gläubig. Ihr Vater ist in die Synagoge gegangen, aber jeder im Haus wusste, dass er dort nur einen Schwatz mit seinen Freunden halten wollte. Nein! Die Religion war in ihrem Leben nie von Bedeutung … Eine Woche nach der Razzia und der Evakuierung des gesamten Panier erlaubt man den Bewohnern, zurückzukommen und ihre Sachen zu holen. Zumindest das, was davon noch übrig ist. Die Spießgesellen von Spirito und Carbone sind vorher durchs Viertel gezogen … Wenn es nicht gar Sabianis Milizionäre waren … Ohnehin sind es oft dieselben. Mario hat einige von diesen Dreckskerlen gesehen, die, geschützt durch eine Armbinde der Zivilverteidigung, die Türen der verlassenen Häuser eintraten, um sie zu plündern. Die Rückkehr der Mieter und Besitzer der Wohnungen in dem gemarterten Viertel war dramatisch: Rufe, Weinen, verzweifeltes Geschrei angesichts ihrer geplünderten Habseligkeiten. Fast alles Arme, natürlich … Die anderen hatten sich längst in Sicherheit gebracht …
Der Anblick der zahllosen, oft für ein Vermögen gemieteten Handkarren, auf denen sich Geschirr, Koffer und Möbel stapeln, ist herzzerreißend. Manche versuchen, ihre Matratzen mitzunehmen. Denn im Gegensatz zu dem, was die Stadtverwaltung behauptet hatte, war nichts vorbereitet worden, um die vielen Enteigneten unterzubringen … Es gab nicht einmal Schlafgelegenheiten. Am Erschütterndsten waren, Agostinos Chef zufolge, die Schicksale der Alten, die niemanden mehr hatten und daher einfach vor der Tür ihres Hauses sitzen blieben und auf wer weiß was warteten … Die meisten von ihnen waren Korsen oder italienische Einwanderer, die hier geboren waren und das alles nicht verstanden … Aber konnte man das überhaupt verstehen? Es gab herzzerreißende Szenen, Kranke, die auf Tragen in die Hospize gebracht wurden, kinderreiche Familien, die von einem Tag auf den anderen auf der Straße standen …
Und das Leid all dieser Menschen spielte sich unter den gleichgültigen, amüsierten Blicken der anständigen Marseiller Bürger ab, die das Viertel besuchten wie einen Zoo. Ein paar hundert Meter weiter standen auf der Canebière die Leute an, um ins Kino zu gehen.
Schließlich durchkämmten die Spezialeinheiten das ganze ermordete Viertel. Sie sammelten sämtliche Vorräte ein, entfernten die Gas- und Stromzähler, die wertvollen Zierelemente an den Fassaden …
Genau wie das junge
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