Die Gassen von Marseille
holen, war die Familie nicht mehr da … Die Polizei hatte sie verhaftet. Er erinnert sich daran, wie der Vater vor ihm stand, sehr aufrecht, leicht im Profil, damit man auch ja seine Orden sah … Damit es keine Unklarheiten gab … Er hatte es nicht verhindern können. Sein Gesicht ist nicht das einzige, das Mario nicht aus dem Kopf geht. Da ist noch das eines kleinen Mädchens … Ungefähr drei Jahre alt. Winzig klein stand sie allein vor der Tür eines Hauses und sah zu, wie unzählige Menschen an ihr vorbeiliefen. Sehr still, weizenblond, mit blauen Augen, glich sie der Porzellanpuppe, die sie in den Armen hielt und kaum merklich wiegte. Tatsächlich trugen sie und die Puppe sogar die gleichen Kleider. Er hatte sie angesprochen.
»Guten Tag!«
Sie mustert ihn abschätzend von unten herauf.
»Sind Sie der Mann, der mich abholen kommt?«
»Äh … Wo sind deine Eltern?«
Sie verdreht den Kopf. Er sieht ein verschmitztes Leuchten in ihrem Blick.
»Wir haben Verstecken gespielt … Maman hat mich ganz hinten im Kleiderschrank versteckt, in einem Pappkarton … Es war dunkel, da bin ich eingeschlafen. Und dann bin ich wieder wach geworden, aber es war keiner mehr da, nur ich und Zézette … Das ist kein schönes Spiel.«
Sie deutet auf die Puppe.
»Zézette ist nicht zufrieden … Sie fängt gleich an zu weinen … Ich habe ihr gesagt, dass bald jemand kommt und uns zu Maman bringt!«
»Was habt ihr denn da?«
Er legt den Finger auf eine vergoldete Sicherheitsnadel, die das Kind und die Puppe an der gleichen Stelle tragen … über dem Herzen. Sie schenkt ihm noch ein oft erprobtes verführerisches Lächeln.
»Das ist ein Geheimnis … Aber vielleicht kann Zézette …«
Sie flüstert ihrer Puppe etwas ins Ohr. Dann sieht sie Mario an.
»Na gut, wir werden es dir verraten, aber du musst schwören, dass du es niemandem weitersagst.«
Er hebt die Hand und spuckt auf den Boden, um den Schwur zu besiegeln … Da hebt sie den Mantelumschlag der Puppe. Darunter erscheint der Stern. Ein winziger Stern … Mario flucht, er schämt sich dafür, ein Mensch zu sein, dieser verfluchten Rasse anzugehören!
»Und was ist mit dir da unten?«
Mario zuckt zusammen und schlägt den Stoff hastig wieder zurück. Ein Angehöriger der Milice Française spricht ihn an.
»Gehört die Kleine zu dir?«
Er antwortet, ohne nachzudenken.
»Ja, ja … Das ist meine Tochter. Ich habe die Papiere, wir gehen jetzt, guten Abend!«
Er zieht das kleine Mädchen an der Hand mit sich. Brüsk macht sie sich von ihm los und schreit zornig: »Das ist nicht mein Papa! Nein! Ich kenne ihn nicht … Ich hätte ihm mein Geheimnis nicht verraten sollen. Da!«
Sie hebt ihren Mantelumschlag an, und darunter wird der leuchtende Stern sichtbar. Der Milizionär kommt drohend näher. Er deutet mit dem Finger auf Mario, und dieser spürt, wie ihm das Blut in den Adern gefriert.
»Du, Bursche …«
Doch in dem Moment wird er von einem Mann der französischen Gestapo unterbrochen. Ein Marseiller, dem Akzent nach zu urteilen.
»He, Blondschopf! Komm her. Schau dir mal an, was wir hier gefunden haben.«
Der Milizionär funkelt Mario wütend an und ruft einen vorübergehenden Polizisten heran.
»Nimm die Kleine mit … Sofort … Das ist ein Judenbalg … Los! Pack sie zu den anderen auf den LKW.«
Der Gendarm, der wie ein anständiger Kerl aussieht, kommt näher und nimmt das Kind auf den Arm. Beruhigt von dem buschigen, väterlichen Schnurrbart und seinen traurigen Augen, lässt sie ihn gewähren.
»Machen Sie sich keine Sorgen«, sagt der Mann zu Mario. »Die Deutschen sind doch keine Wilden. Man wird sich um sie kümmern …«
Und er hatte gesehen, wie sich das kleine, weiße Gesicht in Schatten und Tod geschmiegt hatte, laut über die Geschichten lachend, die der freundliche Polizist ihr erzählte … Freundlich … freundlich! Von jetzt an trägt er all das mit sich herum … Und dann muss er der Verlobten seines Lehrlings auch noch mitteilen, dass ihre Familie …
Dio cane! Sie weint!
Sie spürt die Tränen über ihr Gesicht laufen, aber sie kann sie nicht aufhalten. Drückendes Schweigen senkt sich auf das kleine Zimmer herab. Agostino steht auf.
Mario spricht weiter.
»Du verstehst also, die Kleine darf unter keinen Umständen nach draußen. Jedenfalls im Moment nicht. Erst müssen wir ihr andere Papiere besorgen … Denn mit ihren eigenen …«
»Können wir nicht herausfinden, wo ihre Familie jetzt ist?«, fragt der junge Mann
Weitere Kostenlose Bücher