Die Gassen von Marseille
Eine Närrin Gottes … Eine Nonne … Eine Cello spielende Nonne …«
Er bekommt einen Lachkrampf.
Unten in meinem Zimmer sind leise Schritte zu hören. Der Bogenansatz ist hart, fast schon männlich. Philippe hört auf zu lachen.
Ich kann das Gesicht der Frau hinter dem Gitter kaum erkennen. Geräuschlos hat sie das Zimmer betreten und sich in den Schatten gesetzt. Sie trägt eine Haube und ein langes, faltenloses Kleid. Stille senkt sich auf uns herab. Ich habe es nicht eilig, sie auch nicht. Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Verlegen räuspere ich mich.
»Ähem!«
»Sie haben eine Nachricht von Claudia für mich?«
Ihre Stimme ist ernst und gelassen.
»Ja …«, sage ich. »Also … Ich bin gekommen … Eigentlich … ähm …«
Aufgeregt verheddere ich mich. Mist!
»Ich war dabei, als Ihre Schwester … Um mich zu verteidigen … Jemand wollte mich umbringen, wegen … Zu lang … Uninteressant … Sie hatte den Auftrag, mich zu beschützen. Es ist ihr gelungen, aber … sie ist dabei gestorben. In meinen Armen … Bevor sie starb, hat sie mich schwören lassen, dass ich Sie besuche. Ich konnte nicht früher kommen … Aber jetzt, nachdem diese schmerzliche Geschichte vorüber ist …«
Wieder Stille. Ich weiß beim besten Willen nicht, wie ich weitermachen soll. Um die Wahrheit zu sagen, habe ich sogar gezögert, ob ich überhaupt kommen soll. Es ist ziemlich irre, zu einer Nonne zu fahren und ihr zu erklären …
»Und jetzt bin ich hier …«
Sie wartet darauf, dass ich endlich ins kalte Wasser springe.
»Ja, jetzt sind Sie hier …«
»Ja … also … Na ja … Sie hat gesagt, ich soll Ihnen ausrichten, dass ich der Mann bin, den sie gewählt hat.«
Gott, komme ich mir bescheuert vor! Ich spüre, dass sie mich aufmerksam beobachtet.
»Aha!«
Langes Schweigen … Dann sagt sie: »Ich verstehe … Aber sprechen Sie weiter.«
Ihre Stimme hat sich verändert.
»Ich weiß nicht, warum, aber sie hat mich außerdem gebeten, Ihnen zu erzählen, was mit einer Freundin von mir passiert ist. Sie hieß Juliette, meine Frau …«
Die junge Nonne sagt kein Wort. Also rede ich, von Juliette, den Drogen, ihrem Selbstmord, meinen Schuldgefühlen.
Nach zwei Stunden bin ich fertig. Das Schweigen ist hart. Es verstößt gegen mein Schamgefühl, ich bin so etwas nicht gewohnt. Wir bleiben noch eine Weile sitzen. Irgendwo im Dunkel läutet eine kleine Glocke. Sie steht auf.
»Ich muss jetzt gehen … Wollen Sie, dass wir uns morgen noch einmal sehen?«
Ich nicke. Habe ich eine Wahl?
»Morgen komme ich nach draußen«, sagt sie. »Warten Sie um acht Uhr vor dem Eingang auf mich.«
In dieser Nacht habe ich nicht geschlafen. Ich weiß nicht, warum. Ich habe mir in diesem gottverlassenen Nest, wo bei Sonnenuntergang die Bürgersteige hochgeklappt werden, ein Hotelzimmer genommen. Zum Glück gab es wenigstens ein Restaurant. Zunächst hat der Wirt gezögert, mich zu bedienen, weil ich so unverschämt war, um halb neun noch essen zu wollen … Verdammt!
Am nächsten Morgen regnet es, ein leichter, kalter, trauriger Regen … Ich bin spazieren gegangen. Felder, Kühe, Grün, das kenne ich sonst gar nicht …
Um halb acht stehe ich vor dem Tor und rauche eine Zigarette. Ich habe wieder angefangen zu rauchen. Um acht Uhr öffnet sich die schwere Eichentür. Eine Frau kommt heraus. Was mir als Erstes auffällt, ist ihre Größe. Sie ist groß, sehr groß … Trotz der Kälte trägt sie ein dünnes, altmodisches Sommerkleid mit einem breiten Gürtel, ein Tuch über dem Haar und eine Sonnenbrille wie ein Filmstar aus den Fünfzigern. In der einen Hand hält sie einen kleinen Lederkoffer, in der anderen einen riesigen Leinensack, der die Form eines Cellos hat.
Ich steige aus dem Auto, das mein Freund Claude mir geliehen hat.
»Constantin?«, ruft sie.
Ich nehme ihr den Koffer ab und packe ihn in den Kofferraum, das Cello landet auf dem Rücksitz. Als mir auffällt, dass ihre Arme nackt sind, gebe ich ihr meine Jacke, die sie ohne viel Getue anzieht.
»Gehen Sie weg?«, frage ich.
Sie nickt. Ja, sie geht weg. Aber mehr verrät sie mir nicht. Ich öffne die Tür, und sie steigt ein. Sie faltet ihre Beine gegen den Sitz, nimmt die Brille ab und löst ihren Schal.
Ich stoße einen Schrei aus.
»Aber … Ich kenne Sie doch!«
Ich sehe sie jede Nacht. Sie ist die Unbekannte meiner Dunkelheit.
Sie lächelt. Sie hat die gleichen Grübchen wie ihre Schwester Claudia. Später werde ich herausfinden, dass ihre
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