Die Gassen von Marseille
er. Ich höre, wie er an Esthers Tür klopft. Die singende, fröhliche Stimme meiner Nachbarin antwortet.
Sie verlassen zusammen das Haus.
Eine kleine schwarze Pfote kratzt an meiner Hose. Die hatte ich ganz vergessen. Aber sie mich nicht!
»Dir ist das wohl alles scheißegal, was?«, frage ich sie.
»Miau …«, bekomme ich zur Antwort. Das heißt Hunger! Ich gebe ihr ein wenig Milch und laufe nach unten zum Araber, wo ich ihr ein tiefgefrorenes Steak kaufe. Heute betrachte ich mein Viertel, den Panier, mit anderen Augen. So viel Leid! Und nur wegen des Geldes! Wie viel Geringschätzung muss man seinen Nächsten gegenüber empfinden, um so zu handeln? Ja, der Mensch ist ein Wolf … An einer Wand gegenüber meinem Haus sehe ich alte, halb verblasste Grafitti. »Frieden in Indochina« .Werden sich die Soziologen eines Tages für diese Mauern, das Gedächtnis der Stadt, interessieren? Durch den Abriss des größten Teils dieses Viertels haben sie auch ihr Gedächtnis zerstört. Der Faschismus ist der Feind des freien Wortes und der Erinnerung … Aber warum haben sie dann 1943 diese wenigen Häuserblocks verschont? Warum haben sie nicht alles gesprengt? Wenigstens ermöglichen uns die erhaltenen Gebäude, uns eine Vorstellung davon zu machen, wie das Leben in diesem Teil von Marseille ausgesehen haben muss. Mir kommt ein Gedicht von Edmonde Charles Roux in den Sinn, in dem sie dieses kleine Dorf inmitten der Stadt aus einem anderen Blickwinkel beschreibt als die Stadtväter jener Zeit.
»Es scheint, als vermischten sich dort alle Rassen,
Zu einem einzigen festen, brüderlichen Schaum
Einem namenlosen Brodeln,
Das hinaufwogt bis zur Kuppe des Hügels …«
Die Zeit vergeht.
Esther verbringt zwei Monate im Gefängnis.
»Eine Kleinigkeit. Ich wurde dort behandelt wie eine Prinzessin … Die Polizisten haben mich so verwöhnt, das hättest du sehen sollen, Constantin! Du hättest es nicht geglaubt …«
Natürlich wurde die Akte unter den Teppich gekehrt. Es gab keinen Skandal. In Marseille sind wir es gewohnt, unter dem Vorwand der Schlamperei unseren gewählten Vertretern und Eliten geopfert zu werden. Eines Tages stand Philippe vor meiner Tür. Seit damals hatte ich ihn nicht mehr gesehen. Ich habe ihm einen Kaffee gemacht und war trotz allem froh, mich wieder mit ihm zu versöhnen.
»Ich weiß nicht, ob du mir den Kaffee noch gibst, wenn ich dir alles erzählt habe …«
Ich warte ab …
»Na ja … du hattest recht. Einige Dokumente aus der Akte sind verschwunden … Natürlich genau diejenigen, in denen die angesehenen Bürger erwähnt wurden, die sich verpflichtet hatten, ein sauberes, von allem Gesindel befreites Marseille wieder aufzubauen …«
Ich sage nichts. Erst als das Schweigen zu drückend wird, entgegne ich: »Das musst du nicht mir erzählen, sondern Esther.«
»Das habe ich schon. Ich bin eben bei ihr gewesen. Weißt du, was sie zu mir gesagt hat? Sie ist der Meinung, dass es so besser ist … Dass man die Vergangenheit begraben muss. Dass diese Leute Kinder haben, die unschuldig sind … Um es kurz zu machen, sie ist ganz zufrieden damit, wie alles gekommen ist!«
»Das wundert mich nicht bei Esther … Und was ist mit dir? Wie hast du es aufgenommen?«
Er zuckt mit den Schultern.
»Ich habe alles hingeschmissen.«
»Was?«
»Ich habe ein bisschen in verschiedene Richtungen geforscht … Natürlich nicht zu viel … Schließlich wird man dabei ziemlich schnell aufgehalten … Aber für mich gilt noch immer der Satz, den François Billoux, der Aufbauminister nach der Befreiung, über die Zerstörung des alten Viertels von Marseille gesagt hat: ›Für mich werden immer Zweifel bestehen bleiben, ob neben dem Willen der Deutschen nicht auch finanzielle Interessen mit im Spiel waren.‹«
Schweigend hängen wir beide unseren Gedanken nach.
»Am Ende habe ich gekündigt. Das ist besser so. Ich konnte nicht mehr … Außerdem kommt das vielen Kollegen ganz gelegen. Ich war offenbar zu eifrig.«
Ich bin platt.
»Und was willst du jetzt machen?«
Er lächelt.
»Mach dir keine Sorgen … Du weißt doch, mein Hobby sind Computer. Ich habe bereits einen Job als kaufmännischer Leiter bei einem Gemeindezweckverband gefunden …«
»Und das wird dir nicht irgendwann leidtun?«
»Nein … Und du? Wie steht’s bei dir?«
»Bei mir? Na ja, ich bin verliebt …«
»Verliebt? Und wer ist die Glückliche?«
Ich steigere den Effekt wirkungsvoll.
»Du wirst es nicht glauben …
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