Die Gauklerin von Kaltenberg
lung, manche arbeiteten auch für den Herrenhof. Anna hatte sie nur selten gesehen und erschrak, als sie ihnen am Bergfried begeg nete. Die wettergegerbten Gesichter waren von Geschwüren ver unstaltet, die Cotten verschlissen und notdürftig geflickt. Lena, die Tochter des Häuslers Franz, war letztes Jahr ein lebendiges Kind gewesen. Jetzt schimmerten die zarten Knochen durch ihr aschfahles Gesichtchen, und ihr Bauch war unnatürlich geschwol len. Obwohl sie eine löchrige Decke um die schmalen Schultern gezogen hatte, zitterte sie und hustete immer wieder trocken, so dass sich alles in Anna zusammenzog. Auf dem Arm schleppte sie das Jüngste der Sippe, das ununterbrochen schrie. Kaum jemand konnte sich noch Rüben, Kohl oder gar Fleisch leisten. Aber dass es die Ärmsten unter ihnen so schlimm getroffen hatte, hatte Anna nicht gedacht.
»Bitte erlasst uns die Abgaben dieses Jahr, Frau Jutha«, sagte der Häusler, als die Burgherrin aus dem Palas herüberkam. Sie hatte sich hölzerne Trippen unter die Schuhe geschnallt und das lange Übergewand gerafft, um die feine blaue Wolle nicht am Boden zu beschmutzen. Wenn sie von dem Gerede über ihre neue Magd wusste, ließ sie sich nichts anmerken. Umgekehrt musste Anna gegen eine glühende Eifersucht ankämpfen, wann immer sie sich begegneten.
»Nach dem verregneten Sommer kam die Plünderung und hat alles zerstört«, fuhr der Mann fort. »Mein Vater spuckt Blut und kann nicht arbeiten.«
»Das Kind«, flüsterte die Häuslersfrau. Ihre Arme waren vom ständigen Stillen ausgezehrt wie trockene Äste. Obwohl sie noch jung war, hatte der Hunger bereits ihre Zähne im dunkelblau ge schwollenen Fleisch gelockert. Die Nähe des Todes war so deut lich zu spüren, dass Anna sich unwillkürlich bekreuzigte.
DerAnblick schien auch Jutha zu irritieren. »Die Getreidepreise setzen uns allen zu«, versicherte sie. »Der König tut alles, damit ihr bald wieder mehr für euer Saatgut bekommt.« Ihre Stimme klang gepresst, und wenn sie sich um einen huldvollen Ausdruck be mühte, wurde sie durch das Gebende daran gehindert – das Kinnband, das ihr regelmäßiges Gesicht unter dem Schleier straff um schloss. Anna erinnerte es an die Art, wie man Toten den Kiefer hochband. Sie fragte sich, wie die Burgherrin überhaupt sprechen konnte.
»Der König macht den Boden nicht fruchtbar!«, erwiderte der Häusler. Aber sie hörte die Angst in seiner Stimme. Anna hielt es nicht mehr aus. Sie lief zu der kleinen Lena und nahm ihr den Säugling ab. Der Atem der Kleinen stank, wahrscheinlich hatte sie die Mundfäule.
»Wir haben doch noch Vorräte«, sagte sie, an Jutha gewandt.
»Seit wann entscheiden die Mägde hier?«, fuhr die Herrin sie an. »Wenn du nicht in die Burgsiedlung zurückgeschickt werden willst, benimm dich deinem Stand entsprechend!«
»Es sind genug Menschen gestorben!«, erwiderte Anna heftig. Sie sah den Burgherrn aus dem Stall kommen. »Ulrich!«
»Meine Frau hat recht. Aber vielleicht können wir eine Aus nahme machen«, beschloss er, nachdem die Leute ihre Bitte wie derholt hatten. »Setzt euch zu den Handwerkern. Anna …«, er zögerte, als er ihren Namen aussprach, »… Anna soll euch Kraut und Brot bringen.«
Jutha hatte schon die Lippen zusammengepresst, als Anna ihn beim Vornamen rief. Jetzt sah sie zornig von ihm zu dem Mädchen.
»Wollt Ihr, dass sie auch noch davonlaufen?«, kam er ihr halb laut zuvor. Er wandte sich an Lena: »Du brauchst einen Arzt. Der Spielmann soll etwas davon verstehen. Geh zu ihm, er ist in der Küche!« Er nahm den Arm seiner Frau, doch die Geste wirkte kühl. Anna musste daran denken, wie er sie selbst berührte. Ihre Blicke trafen sich, und sie wusste, dass er dasselbe dachte.
»Und, Anna«, meinte er beiläufig, »sag deinem Vater, dass du noch ein paar Tage bleiben wirst. Er müsste drüben bei den Hand werkern sein. Ich komme gleich nach.«
Die Häusler stießen sich an, als sie das noch warme Dinkelbrot und duftende Krautsuppe mit Schmalz vorgesetzt bekamen. Unter dem aus Ästen gefügten Regendach, wo sich auch die Buden der Handwerker ans Gesindehaus duckten, rückten sie zusammen. Anna hatte Ulrichs Befehl in ihrem Sinne ausgelegt und brachte einen Krug Fastenbier: stark und nahrhaft, besser als Dünnbier oder gar das von der Flut verseuchte Wasser. Da man auf Kalten berg beim Brauen nur Hopfen, Malz und Wasser verwendete, würden auch die Kinder keinen Schaden nehmen – was man von dem bei ihnen zu Hause gebrauten
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