Die Gauklerin von Kaltenberg
zu sprechen, was sie mit Ulrich verband, kam ihr wie Verrat vor. Sie schloss die Augen und dachte an seine Lippen auf ihren, sein Lächeln im Halbdunkel. Und dann an die Männer, die ihre Frauen schlugen und die schweren Arbeiten verrichten ließen, die Gesichter,ausgelaugt von den jährlichen Wochenbetten und der Trauer um zu viele verstorbene Kinder. »Er war der erste Mann, der mich nicht besitzen wollte.« Warum erzählte sie ihm das alles? Zornig über sich selbst, stellte sie ihm die Frage, die ihr schon die ganze Zeit auf den Lippen brannte: »Die Carmina in meinem Buch – es klang vorhin, als würdet Ihr sie kennen.«
Er richtete sich sichtlich unter Schmerzen auf. »Kennen wäre zu viel gesagt. Der Spielmann des Grafen von Tirol sang sie manchmal. Aber so oft saß ich nicht am Tisch des Grafen.«
»Der Spielmann …« Annas Stimme versagte, als ihr Herz von einem Schlag auf den anderen zu pochen begann. Ärgerlich schluckte sie und wiederholte: »… des Grafen von Tirol?«
Ihre Gedanken begannen sich zu jagen. Vielleicht konnte die ser Spielmann ihr helfen. In ihrer Erwartung steigerte sie sich in immer wildere Vermutungen hinein. Am Ende hatte er die Lieder sogar selbst geschrieben? Lebhaft sah sie auf.
»Damals, als Ulrichs Vater mich als Hexe verurteilen ließ, warf er mir Ketzerei vor. Es ging um das Lied, das ich gesungen habe: beim Essen, als Ihr …« Sie unterbrach sich.
Raoul sah sie schweigend an. Das schwarze Haar umrahmte sein Gesicht und ließ den Blick intensiver wirken. Seine nacht dunklen Augen hatten einen fremden, hellen Glanz. Anna hatte das Gefühl, ihn zum ersten Mal zu sehen. Es war, als hätte er auf einmal das unsichtbare Visier geöffnet, hinter dem er sich verbor gen hatte. Sie hatte einen Feind dahinter erwartet. Und sah einen Mann mit Gefühlen.
»Dein Haar ist nass«, sagte er endlich. Er nahm seine Decke und kam zu ihr in den Eingang, um es zu trocknen. Anna zuckte zu sammen und wollte zum Bach gehen.
Raoul schüttelte wortlos den Kopf und wies hinaus.
Atemlos blieb sie stehen. Der föhnzerrissene Himmel glühte in der Abenddämmerung und tauchte die Hütte und den schiefen Zaun in goldenes Licht. Auf der waghalsig vorspringenden Fels nase,hoch über dem Tal und eingeschlossen von gewaltigen Felsgipfeln, wirkte sie winzig und verloren. Trotzdem fühlte sich Anna geborgen. Hinter ihnen zog sich das rot glänzende Band des Bachs durch die Wiese. Gelb leuchtender Nebel stieg aus dem Tal auf, legte einen Feenschleier um die Zollburg am Horizont und gab Anna das Gefühl, in den Wolken zu schweben. Verzaubert sah sie auf das Farbenspiel.
Raoul begann ihr Haar zu trocknen. Im ersten Moment zuckte sie zusammen und versteifte sich. Aber sie tat auch nichts, um ihn zu hindern.
Dann legte sie langsam den Kopf zurück. Seine schlanken Hände waren kräftig, und sie überließ sich dem sanften Druck. Ihre Lippen öffneten sich leicht, und die frische Bergluft prickelte darauf. Sie spürte den leichten Ledergeruch, doch zum ersten Mal seit Jahren genoss sie wieder die Berührung eines Mannes. Und zum ersten Mal genoss sie es wieder, ihren Körper zu spüren. Sie dachte nicht mehr daran, wie gefährlich Raoul war. Von seinen Händen ging eine Wärme aus, die sie seit Jahren verloren geglaubt hatte. Lächelnd gab sie sich dem überwältigenden Gefühl hin, grenzenlos glücklich zu sein.
9
»Warmes Wasser! «
Die Kindsmagd lief zur Tür, erleichtert, einen Augenblick aus dem Zimmer gehen zu können. Königin Beatrix schrie den Na men der heiligen Cäcilia, als die Wehe sie durchlief. Wie durch einen Schleier hörte sie die Hebamme rufen, sie solle pressen. Aber der Gebärhocker gab ihr keinen Halt mehr. Auf die beiden Mägde gestützt, biss sie die Kiefer aufeinander. Die Hebamme kroch irgendwo zu ihren Füßen herum, um im rechten Moment zuzugreifen. Hinter ihr faselte der Astrologe etwas, und sie hörte die Hebamme erwidern: »Zum Teufel mit Eurem guten Stern! Schaut, dass Ihr rauskommt … gut so!«
Kraftlos sank Beatrix wieder in die Arme der Mägde. Die nächste Wehe rollte an, sie brüllte den Namen des heiligen Ste fan. Mit jeder Wehe hatte sie einen Heiligen hergebetet, wie sie es gelernt hatte. Obwohl sie kaum noch die Kraft hatte, aufrecht zu sitzen, presste sie. Einen Augenblick fühlte sie sich, als würde sie zerreißen. Dann sank sie keuchend in den Stuhl zurück. Auf einmal hörte der Schmerz auf.
»Ein Junge!«, rief die Hebamme. Beatrix’ ganzer Körper klebte
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