Die Gauklerin von Kaltenberg
Augenblick, als er die Galerie erreichte, nutzte er den Vorteil. Eisen knirschte – mit einer blitzartigen Drehung hatte er seinem Gegner die Waffe aus der Hand gehebelt. Die Klinge fuhr in dessen Schulter und prallte knirschend auf den Knochen. Anna schrie auf, als das Blut auf Raouls Brust spritzte. Ehe der Riese rea gieren konnte, hatte er ihn mit einer kraftvollen Ohrfeige über das Geländer geschleudert. Dumpf schlug er auf und blieb stöhnend liegen. Raoul war, von der Wucht des eigenen Schlags herumge rissen, in die Knie gegangen. Jetzt sprang er hinterher. Herausfor dernd ließ er die Klinge kreisen. Seine Cotte hing auf der Brust in Fetzen herab, auf der nackten Haut bewegten sich Blutstropfen hin und her, doch er schien nicht ernsthaft verletzt zu sein. Seine Sicherheit war unheimlich.
Jemand griff nach ihrem Arm. Anna stieß einen Schrei aus und befreite sich mit einer geschmeidigen Drehung. Es war der Mann mit der gebrochenen Nase. Sie umklammerte den Ast und drosch unbarmherzig auf die Verletzung ein. Brüllend taumelte er zurück. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie, wie Raoul überrascht zu ihr herübersah. Sie rief ihm eine Warnung zu.
Der Riese mit der Narbe hatte sich aufgerafft und nutzte die Un aufmerksamkeit. Raoul fuhr im knöcheltiefen Bach herum, doch zu spät. Mit voller Wucht traf ihn das Schwert in den Oberschen kel.
Anna schrie vor Wut auf. Ohne nachzudenken, wie absurd es war, ihrem Todfeind beizuspringen, raffte sie ihren Stock auf. Raoul war keuchend in die Knie gesunken. Der Riese holte zum zweiten Mal aus. Mit aller Kraft schlug sie ihm den Ast ins Gesicht.
Das Holz brach splitternd, er brüllte und hielt die Hände vor die Augen. Im reißenden Bach glitt er aus, die Strömung ergriff ihn und riss ihn mit. Seine Schreie wurden lauter. Sie sah, wie sein Kopf gegen einen Felsen schlug, und das Brüllen verstummte.
Miteiner wilden Bewegung wandte sie sich um, dass ihr die Lo cken eiskalt und nass ins Gesicht klatschten. Der letzte Mann war in den Wäldern verschwunden. Raoul presste die Linke auf den Oberschenkel, unter seinem Handschuh quoll Blut hervor. Mit der freien Linken versuchte er, ein Stück Stoff von seiner zerfetzten Cotte zu reißen, doch das Blut strömte unaufhaltsam durch seine Finger. Schwer atmend wollte Anna ans Ufer. In diesem Moment sah er auf, und ihre Blicke trafen sich.
Mit einem verzweifelten Laut blieb sie stehen. Konnte sie etwas dafür, wenn sich der Fluch erfüllte? All die Jahre hatte sie ihm den Tod gewünscht, die ganze Zeit auf einen Augenblick gewartet, da er sie nicht verfolgen konnte.
Raoul sagte nichts. Er sah sie nur an.
Zornig wischte sie sich mit dem Ärmel übers Gesicht. Dann war sie mit wenigen Schritten bei ihm.
Auf sie gestützt erreichte er das Ufer. Anna riss einen Fetzen aus seiner Kleidung und legte ihre Hand auf seine Brust. Stöhnend sank er ins Gras. Die nassen Haare kräuselten sich leicht um sein bleiches Gesicht. Sie schnitt seine Bruche mit dem Dolch auf. Das Schwert hatte ihn unterhalb der Leiste getroffen, vermutlich war das Ziel die Schlagader gewesen. Erleichtert bemerkte sie, dass die Blutung nicht hellrot pulsierend aus der Wunde spritzte wie da mals bei Falconet. Sie strömte gleichmäßig, und auch das Blut war dunkler. Dennoch, ohne Hilfe würde er in weniger als einer Stunde tot sein.
Anna wickelte den Stoff zu einem Knäuel und drückte es fest auf die Wunde. Sie spürte die warme Feuchtigkeit an ihren Fingern, aber sie kümmerte sich nicht darum. Mit den Zähnen riss sie einen weiteren Streifen aus Raouls Cotte und wickelte ihn darüber. Ihre Hände bewegten sich wie von selbst. Endlich wischte sie sich schwer atmend die Stirn. Ihre Haut klebte, sie war bis über die Handgelenke blutbeschmiert.
Raoul lag mit zusammengepressten Lidern im Gras. Er atmete flach,und sie war nicht sicher, ob er bei Bewusstsein war. Erst jetzt bemerkte sie, wie groß die Blutlache unter ihm war. Es erinnerte sie an Falconets Tod, und das nie verwundene Gefühl des Verlusts überfiel sie wieder. Auf einmal hatte sie entsetzliche Angst, Raoul würde sie auch verlassen.
Ihr Haar fiel auf ihn, die Brust unter der zerschnittenen Cotte hob und senkte sich kaum spürbar. Annas Lippen wurden wei cher, als sie die Schnitte und trocknenden Perlen Blut bemerkte. Sie wusste selbst nicht, warum sie so fieberhaft mit dem feuchten Saum ihres Kleides über seine Stirn strich und ihm das nasse Haar aus dem Gesicht schob. »Raoul!«, flüsterte sie.
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