Die Gauklerin von Kaltenberg
schon ein frisches Strohlager aufgeschüttet. Im Dach gab es einen Rauch abzug, sie würden ein Feuer machen können. Sogar die Pferde fan den Platz.
Raoul wollte sich nicht hinlegen, ehe er sich nicht überzeugt hatte, dass das Bein seines Rappen nicht ernsthaft verletzt war. Liebevoll, wie sie es ihm nicht zugetraut hatte, strich er über die zuckende Flanke. Als Anna ihm endlich auf das Lager half, ver rieten die durchscheinenden Lider über der scharf geschwun genen Nase Anstrengung und Erschöpfung. Der Ausdruck seiner halbgeöffneten Lippen berührte sie. Es lag Schmerz darin, aber er kam nicht von der Wunde. Anna wusste, wie es war, sich nach einem Ort zu sehnen, wo man keine rechtlose, verachtete Fremde war. Auf einmal verstand sie, was Raoul trieb, weshalb er sich in dieses Netz aus Hass und Rache verstrickt hatte.
»Ich gehe und sammle Feuerholz«, sagte Maimun leise.
Anna richtete sich auf. Sie raffte den von der Nässe dunklen Saumihres Kleides und wollte hinter ihm hinaus, um Wasser zu holen.
»Warum bist du nicht geflohen?«, hörte sie Raouls dunkle Stim me.
Sie blieb in der verwitterten Tür stehen. Die Düfte nach Heu und Kräutern schienen schwerer als vorhin. Die Sonne verschwand hinter den Bergen, und der Himmel färbte sich langsam gelb, rot und violett. Sie musste sich beeilen. Bald würde es dunkel sein.
»Du hättest mich zurücklassen können«, sagte er ruhig. »Du hättest dir sagen können, dass der Fluch mich getötet hat.«
Warum konnte er keine andere Stimme haben! Ohne sich zu ihm umzudrehen, erwiderte Anna: »Ich hole Wasser. Ihr müsst trinken, um den Blutverlust auszugleichen.«
»Warum?«, wiederholte er.
Annas Blick folgte dem Arzt, der über die steinige Wiese zu den knorrigen Bergfichten ging. Sie wusste selbst nicht, warum sie Raoul geholfen hatte. Aber es war greifbar, dass sich zwischen ihnen etwas verändert hatte. In den letzten Tagen hatten sie zu eng aufeinander gelebt, um noch Geheimnisse voreinander zu haben. Sie wusste mehr über Raouls und Maimuns alltägliche An gewohnheiten, als sie es von Ulrich je erfahren hatte. Nicht einmal ihr Geliebter war je so über die Unterschiede ihres Stan des hinweggegangen. Sie fühlte sich Raoul nicht mehr schutzlos aus geliefert. Auf einmal hätte sie gern mehr über ihn gewusst.
»Die Leute sagten, Ihr kommt aus dem Heiligen Land«, sagte sie. Sie hatte keine Antwort erwartet, doch Raoul bejahte.
»Meine Mutter war eine Christin aus Akkon in Palästina.«
Überrascht drehte sie sich um. Es war das erste Mal, dass er et was über seine Vergangenheit preisgab. Obwohl seine Kiefer vor Schmerzen zusammengepresst waren, waren die dunklen Augen klar. »Unser Haus lag an der Stadtmauer. Eine gewundene Gasse führte hinauf zur früheren Ordensburg der Deutschherren. Ich war oft dort …« Er unterbrach sich.
»Hatsie dort gelebt?«, fragte Anna leise. »Die Frau, die Ihr ge liebt habt?«
Raoul erwiderte nichts, nur seine Nasenflügel bebten leicht. »Sie ist tot«, bestätigte er endlich, was sie schon vermutet hatte. »Sie war eine Sklavin.«
»Und eine Sängerin«, sagte Anna.
Er blickte überrascht auf und bejahte dann. »Es wurde nie wirk lich kalt«, fuhr er fort, als würde es ihn erleichtern, endlich dar über sprechen zu können. »Die Märkte waren überdacht, weil die Sonne brannte. Es roch nach Salz und Fisch und nach den Gar küchen. Nachts waren die Straßen hell beleuchtet, und der Wind trug den Duft von Parfüm und Gewürzen mit sich. Überall in den Höfen wurde getrunken und gelacht, die Musik hörte man in der ganzen Stadt.«
Bisher hatte Anna gedacht, dass es so ein Land nur im Paradies gab. »Und Ihr habt es aufgegeben?«, fragte sie leise. Kaltenberg musste ihm sehr viel bedeuten, weit mehr, als sie geglaubt hatte.
Er bejahte. »Von meinem Vater kannte ich nur den Namen sei ner Burg. Aber als meine Mutter starb, konnte ich nicht bleiben. Ich musste wissen, wer ich bin.«
Anna wusste zu gut, wovon er sprach. Jedes Mal, wenn die Dorfmädchen tuschelten, sie sei das Kind eines unehrlichen Gauk lers, hatte sie sich dieselbe Frage gestellt. Sie versuchte sich Raoul im Waffenhemd eines Herrschers vorzustellen, doch es gelang ihr nicht. Aber sie begriff, dass Kaltenberg alles war, was er von seinem Vater wusste – und vielleicht das Einzige, was er von ihm je bekommen konnte.
»Warum willst du zu Ulrich zurück?«, fragte er plötzlich.
»Er war der erste Mann …« Sie unterbrach sich. Mit ihm über das
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