Die Gauklerin von Kaltenberg
Ausgerechnet hier, am Ziel ihrer Träume, fühlte sie sich plötzlich unendlich leer. War es mit allem so, wonach man sich leidenschaft lich sehnte? Sie musste daran denken, wie Raoul sie berührte, wie etwas unendlich Kostbares. Nicht wie eine Frau, die man neben her vor dem Abendessen in einem Winkel nahm.
»Was hätte ich tun sollen?«, erwiderte er heftig. »Wir sind Mi nisterialen des Königs, und du bist eine Bauernmagd!«
Er hatte recht. Aber Raoul hatte sie nie wie eine Bauernmagd behandelt. Sie waren Feinde gewesen, vielleicht sogar Todfeinde. Und trotzdem hatte er sein Leben aufs Spiel gesetzt, um sie aus dem Lech zu retten. Ulrich hatte Macht und Reichtum gewollt, und er hatte sein Ziel erreicht. Aber er hatte einen hohen Preis dafür bezahlt, einen zu hohen. Seine Augen waren wie zerfressen von Gier und mörderischem Ehrgeiz. Den warmen Glanz, den sie das erste Mal gesehen hatte, als sie in Raouls Arm aufgewacht war, würden sie niemals haben. In diesem Moment begriff sie, dass sie wegen Raoul zwischen die Männer getreten war. Sie drehte sich um.
»Komm zurück, Anna!«, befahl der Burgherr.
Lautlos schüttelte sie den Kopf. Als sie unter der Galerie in den Hof trat, zögerte sie. Sie hatte das Gefühl, etwas Unwiderrufliches zu tun.
»Kommzurück, ich befehle es dir! Du bist noch immer meine Leibeigene!«
»Ich gehöre niemandem!«, schrie sie ihn an. »Vielleicht bin ich rechtlos, aber ich bin frei!« Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie wollte zum Tor, und stumm machten ihr die Leute Platz.
Ulrich kam ihr nach und hielt sie zurück. Wütend fuhr er das Gesinde an: »Was haltet ihr Maulaffen feil? Habt ihr nichts zu tun?« Er hob Annas Kinn, um ihr in die Augen zu sehen. »Du bist so anders als früher. Ist es wegen Raoul?«
Ihre Lippen begannen zu zittern. Sie konnte ihn nicht ansehen.
Auf einmal brüllte er: »Was hat er mit dir gemacht?« Vor allen Leuten zog er sie gewaltsam an sich und begann sie wild zu küs sen. Mit einer Hand tastete er nach ihrer Cotte und wollte sie über den Schenkel schieben. Im ersten Moment war Anna so über rascht, dass sie sich nicht einmal wehrte. Dann kämpfte sie wütend gegen seinen Griff an. Unwillkürlich tat sie, was sie auf der Straße so oft getan hatte: Sie wand sich gelenkig aus seinen Armen und schlug ihn ins Gesicht.
Ulrich starrte sie an. Lastendes Schweigen lag über dem Hof. Keiner wagte etwas zu sagen, aber es war förmlich greifbar, was die Leute dachten. Nie, so lange sie denken konnten, hatte es je mand gewagt, sich dem Burgherrn zu widersetzen. Keuchend zog Anna das Kleid wieder über die Beine. Erst jetzt wurde ihr klar, was sie getan hatte. Sie zitterte, aber sie bat nicht um Verzeihung. Wort los drängte sie sich durch die Menschen zum Tor.
»Das wirst du bereuen«, schrie Ulrich ihr nach. Seine Stimme überschlug sich vor Wut, außer sich brüllte er ihr nach: »Hast du gehört? Du wirst es bereuen!«
10
In dem qualmdurchwölkten Küchengewölbe war kaum noch die Hand vor Augen zu sehen, aber es roch verführerisch nach Reb huhn. »Tobias!«, brüllte der Koch. »Beweg deine Füße, gleich wird der König hier sein. Sie haben sein Banner schon in Dürnast ge sehen.«
Der graumelierte, über den Ohren abgeschnittene Pagenkopf des Dieners schälte sich aus dem Dunst. Es war voll in dem win zigen Raum. Für den hohen Besuch reichte das Gesinde des Burg herrn bei weitem nicht aus, da mussten seine Abhängigen aushel fen. Verstohlen schnüffelte Tobias an den zugedeckten Schüsseln mit dem ersten Gang, während er sie auf das Holzbrett stellte. Als der Koch nicht hinsah, hob er einen Deckel und naschte. Domi nikanertorte, dachte er. Ein köstlicher Duft nach Aal, Käse und Flusskrebsen kitzelte seinen Gaumen. Dazu kamen die Aromen von Safran, Ingwer und sogar Paradieskörnern, wie der geübte Dieb sofort erkannte.
»Die Hexe wird uns alle zu Schaden bringen«, zischte die All geierin. Sie schob den schweren Holzschieber mit Broten in den Ofen, schüttelte die Teigfladen auf das Eisenbrett und zog ihn äch zend wieder heraus. Eine davongelaufene Leibeigene war schon aufregend genug, aber dass Anna sich wieder hierherwagte und auch noch ihren Herrn schlug, war geradezu undenkbar. Wenn Herr Ulrich sie im nächsten Sumpf ertränkte, ohne ihr vorher bei lebendigem Leib die Haut abzuziehen, konnte sie von Glück sagen.
»Halt’s Maul!«, fuhr Regina dazwischen, die soeben hereinkam. »Anna ist keine Hexe.«
»DerHerr wird ihr das
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