Die Gauklerin von Kaltenberg
als seine Hände über die sanfte Rundung ihrer Schultern glitten. Hätte Ulrich jetzt zugeschlagen, er hätte nicht einmal den Arm heben können.
Ulrich bemerkte es. Seine Brust hob und senkte sich keuchend, und die fischartigen Augen glitten zwischen seinem Feind und sei ner früheren Geliebten hin und her. Langsam senkte er die Waffe. Ein herausfordernder Blick traf seinen Rivalen.
»Es wird mir ein Vergnügen sein, Euch vor aller Augen zur Hölle zu schicken«, zischte er. »Also gut: Ihr werdet trotz Eurer niederen Herkunft am Turnier teilnehmen. Wir entscheiden es im Angesicht des Königs!«
Dann griff er nach Annas Arm und zog sie mit sich.
9
Anna hatte sich wider Willen nach Raouls großer, dunkler Gestalt umgesehen. Er blickte ihr nach, unerträglicher Hass stand in sei nen Augen. Sie schob die Erinnerung an die Scheune in Neustift gewaltsam von sich weg. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. So sehnsüchtig sie sich gewünscht hatte, Ulrich wiederzusehen, so sehr hatte sie sich auch davor gefürchtet. Einen Moment bemerkte sie nicht einmal, dass auf seiner Oberlippe ein Bartansatz und sein Haar länger war als früher. Sie sah ihn so vor sich wie damals.
Sie überging seine Überraschung und zog ihn wortlos zur Burg. Es gab keinen Grund mehr, sich zu verstecken. Je näher sie ka men, desto stärker wurden die Erinnerungen. Beinahe laufend er reichte sie vor ihm das Tor und blieb stehen.
All die Jahre hatte sie von diesem Augenblick geträumt. Zärtlich ließ sie ihre Blicke über den Ort gleiten, mit dem sie verbunden war wie mit keinem anderen auf der Welt. Der Hof kam ihr kleiner vor, als sie ihn in Erinnerung gehabt hatte. Das Fenster zu ihrer winzigen Dachkammer im Gesindehaus war offen. Ein Laken hing heraus, wie früher, wenn sie die Strohsäcke gegen Flöhe behandelt hatte. Offenbar bereitete man sich für die Ankunft des Königs vor: Bretter mit Schüsseln wurden über den Hof geschleppt, der Boden mit frischem Stroh bedeckt. Unter den Außentreppen und Galerien, wo sie sich als Kind versteckt hatte, liefen Knechte in ihren schwarzweißen Tuniken, und auf den Dächern flatterten Wimpel. Früher hatte sie diese Aufregung geliebt, wenn ein Gast erwartet wurde. Und wie damals spielten die Kinder Turnier: Zwei schleppten jeweils ein weiteres auf dem Rücken und tjosteten mit Besenstielen. Anna lächelte. Es kam ihr vor, als hättesie erst gestern Martin und seine Freunde dabei angefeuert. Dankbar schloss sie die Augen, um das Bild in sich aufzunehmen. Sie war wieder hier.
Ulrich trat hinter sie. Langsam schob er sie zu ihrem Winkel von damals, bei der Tür unter der Galerie. Die Leute taten, als würden sie es nicht beachten, aber sie war sicher, dass sie es be merkten.
»Du bist gekommen!«, flüsterte er lächelnd. Er spielte mit ihren widerspenstigen Locken, wie er es ein Dutzend Mal getan hatte. »Hast du denn überhaupt kein Schamgefühl?« Nichts hatte sich hier verändert, die alten Balken, die wurmstichige Tür in ihrem Rücken, der duftende Efeu, der sie von Blicken abschirmte. Die Erinnerung war so überwältigend, dass Anna die Gedanken an Raoul weg schob. Für einen Moment war sie wieder das Mädchen von damals. Ulrich begann sie zu küssen, und lächelnd erwiderte sie seine Küsse. Sie genoss das Gefühl seiner Hände auf ihrem Körper, seinen ver trauten Geruch, ihre Finger glitten über das Muttermal an seinem Hals. Von diesem Augenblick hatte sie geträumt. Sie war dort, wo sie immer hatte sein wollen – in Kaltenberg, in Ulrichs Armen.
»Ich habe so gehofft, dass du mich holst!«, flüsterte sie.
»Es war unmöglich. Aber jetzt bist du hier.« Er drängte sie fes ter an die überwucherte Tür und legte seine Hand auf ihre Brust.
»Warte!« Lächelnd schob sie ihn ein Stück von sich weg. Er wollte sie festhalten, aber sie wand sich seitlich heraus.
»Was ist?«, stieß er hervor.
Anna lachte leise. Übermütig breitete sie die Arme aus und drehte sich einmal herum. »Ich muss mich nicht mehr verste cken«, rief sie. Ohne sich darum zu kümmern, dass das Gesinde neugierig im Hof zusammenlief, trat sie ein Stück aus der Nische heraus. Am liebsten hätte sie es ihnen allen laut ins Gesicht geru fen: »Ich bin keine Hexe!«
Sie sah Ulrich entgegen, der ihr überrascht nachkam. Hastig sprudelte sie alles heraus: »Ich kann es beweisen. Erinnerst du dich?Den Spielmann, der das Lied gemacht hat, habe ich nicht gefunden. Aber er war ein angesehener Geistlicher. Ich habe eine
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