Die Gauklerin von Kaltenberg
Glut und hielt seine knochigen Hände darüber. Die Flam men warfen einen rötlichen Schein auf sein Gesicht, das auf einmal ernst war. »Ich wollte nicht, aber dann habe ich es doch genom men. Ich weiß nicht einmal genau, warum. Es gibt nur eine einzige Abschrift davon. Ich glaube, ich hatte Angst, dass das Buch zerstört wird oder verschwindet – und dass alles dann unwiederbringlich verloren wäre. Vielleicht wirst du es verstehen … irgendwann.«
Anna sah ihn zweifelnd an wie einen Irren im Siechenhaus.
Er steckte das Buch ein, und sein Fuchsgesicht verschwand fast völlig in dem Schaffell. »Ehrlich«, sagte er unvermittelt. »Was verstehen wir einfachen Leute schon vom Glauben, Demut und Keuschheit und so? Das hier ist einfach: Das Schicksalsrad trägt dich hinauf und begräbt dich unter sich. Irgendwann trifft es jeden. Also genieße den Augenblick, ob er gut ist oder schlecht. Denn du bist da. Und du weißt nicht, wie lange noch.«
Er tätschelte sie und grinste. »Frag ruhig den Bischof nach dem Lied. Musst ihm ja nicht sagen, dass sie dich deswegen als Hexe ersäufen wollten.«
Und so wurde die friedliche Ruhe des bischöflichen Skriptoriums bald empfindlich gestört:
»Meine Tochter, das ist kein Ort für dich! Noch nie war eine Frau hier drinnen.« Der Diakon, dem die Bibliothek des Bischofs unterstand, hatte sich in seiner ganzen beeindruckenden Größe zwischen Anna und die Regale voll dicker verstaubter Folianten gestellt.
»Was Ihr nicht sagt«, erwiderte sie unbeeindruckt und wand sich an ihm vorbei. Während der Bibliothekar krampfhaft überlegte, wie er sie aus dem Raum entfernen sollte, sah sie sich um.
Das Skriptorium nahm fast das gesamte erste Geschoss dieses Flügelsein. Durch die hohen Fenster drang der Wind ungehindert ein, ohne dass es allzu hell gewesen wäre. Hin und wieder hielten Schreiber und Buchmaler ein großformatiges Pergament fest, damit es nicht weggeweht wurde. Sie lasen halblaut, so dass ein ständiges Murmeln den Raum erfüllte. Nach mehreren Stunden in dem ungeheizten Raum mussten einem die Finger vor Kälte taub werden und das Wachs der Schreibtafeln erstarren – besonders an den Bänken in den Fensternischen. Von ihren wurmstichigen Pulten aus beäugten die Männer Anna neugierig. Die meisten waren Kleriker des Bischofs, erkannte Anna, aber es waren auch Mönche darunter. Auf der Kutte und im Bart des einen klebten noch Suppenreste, vermutlich aus Zeiten der Schlacht von Göllheim vor fast zwanzig Jahren.
Sie hatte Falconet das Blatt mit dem Schicksalsrad entwendet und den Anfang des Liedes aufgeschrieben. Jetzt reichte sie bei des dem Bibliothekar und sagte: »Gelehrte Mönche können doch an der Schrift und der Malerei erkennen, wo etwas geschrieben worden ist. Ihr seid mich los, wenn Ihr mir sagt, wer das hier ge macht hat. Und wo ich ihn finde.«
Die Schreiber schielten neugierig über ihre Pulte, aber niemand wagte sich näher. Der Bibliothekar besah das Blatt und zuckte die Achseln. Vermutlich in der Hoffnung, Anna schnell loszuwerden, erklärte er: »Das war ein geübter Schreiber, aber es ist nicht ver goldet, also kein Prachtkodex. Eher für den täglichen Gebrauch. Deshalb auch das kleine Format, man kann es leicht transportie ren.« Er kniff die Augen zusammen und rief einen Novizen. Der Junge brachte einen Smaragd, und schnüffelnd hielt er sich den Edelstein vors Auge. Anna hatte schon gehört, dass man damit die Dinge größer sah, aber beobachtet hatte sie es noch nie. Smaragde waren nicht gerade das, was eine Gauklerin scheffelweise besaß. »Niemand schreibt heute mehr so. Lass es gut sein, Mädchen, ich kann dir nicht helfen.«
»Das ist ein Spielmannslied, nicht wahr?«, fragte Anna hartnäckig. Inzwischen hatte sie begriffen, dass sie als Gauklerin eine gewisseNarrenfreiheit genoss. Wenn sie die Leute nur lange genug quälte, würden sie schon reden. »Wer schreibt so etwas auf, wie die Bibel und die Traktate der Gelehrten?«
»Welcher Schreibkundige interessiert sich für die Possen der einfachen Leute?«, gackerte der Mönch mit der besudelten Kutte. »Komm her, Mädchen, lass dir was sagen! Hast sicher was gegen mein Rheuma in deinem Beutel da. Gaukler verkaufen immer Sal ben.«
Anna hatte nur die Jungfräulichkeitssalbe mit, doch sie bejahte und hockte sich mit ihren Blättern zu ihm in die eiskalte Fenster nische. Sie musste sich beeilen, ehe man sie hinauswarf. Aus dem Augenwinkel sah sie, dass der Bibliothekar schon einen Novizen
Weitere Kostenlose Bücher