Die Gauklerin
die Alte ihnen nachgelaufen.
«Hier, mein Engelskind.» Sie überreichte Agnes einen Kanten Brot. «Den hab ich heimlich genommen für dich.»
«Was für ein gütiges Geschenk – aber ich darf es nicht annehmen.»
«Freilich.» In ihren Augen blitzte der Schalk. «Ich bin nämlich hier die Meisterin. Ich habe zu bestimmen. Und dieses kleine Stückchen Brot wird uns nicht vom Verhungern abhalten, da kannst du Gift drauf nehmen. Denn nach dem Morden kommt der Hunger. Dort oben im Dorf», sie zeigte mit ihrem knochigen Finger auf den Bergsporn, «haben wir gestern unsere Toten begraben. Und wir werden ihnen bald folgen, einer nach dem andern. Nur», sie strich lächelnd über Agnes’ Wange, «wer begräbt den Letzten?»
Rudolf räusperte sich. «Habt vielen Dank, Gevatterin, aber wir müssen jetzt los.»
«Dann rasch fort mit euch. Auf das Gebirge rettet euch und seht nicht hinter euch. Denn Lots Weib sah hinter sich und ward zur Salzsäule.»
Sie trieben ihre Pferde in Trab. Als sie die Hochebene erreicht hatten, sagte Agnes: «Die arme Alte! Sie hat sicher Grauenhaftes erlebt.»
Eine Wegstunde später lichtete sich der Wald, und sie erblickten unter sich den Fluss in einem lieblichen, breiten Tal, das auf ihrer Seite von Weinbergen, auf der anderen von dunkel bewaldeten Bergen gesäumt war. Wie Perlen an einer Schnur reihten sich Dörfer und Weiler entlang den Flanken der Weinberge. Doch das, welches ihnen am nächsten lag, war nichts als ein verlassener Haufen Trümmer. Kein Viehzeug regte sich, keine menschliche Stimme durchbrach die Stille.
«O Gott!» Agnes umklammerte ihre Zügel. «Ist denn hier alles verwüstet?»
«Das Handwerk der Söldner ist nun mal das Brennen, Sengen und Morden», murmelte Rudolf. «Willst du immer noch weiterreiten?»
«Ich kann jetzt nicht mehr zurück.»
Rudolf zuckte die Schultern.
«Wenn du meinst. Bleiben wir am besten hier oben am Waldsaum, auch wenn der Weg mühsam ist. Womöglich treiben sich immer noch Marodeure im Tal herum.»
Die nächsten Stunden ritten sie dicht hintereinander her, jeder in seinen Gedanken versunken. Was Agnes bisher auf ihrer Reise gesehen hatte, lag wie eine schwere Last auf ihr. Was für eine über die Maßen erbärmliche Zeit! Zugleich stieg eine unbestimmte Angst in ihr auf, dass dies nur ein Vorgeschmack auf weitaus Schlimmeres sein mochte.
Als sie die Landesfestung Schorndorf hinter sich hatten unddie Schatten lang wurden, beschlossen sie, zum Fluss zu reiten, denn die Pferde mussten getränkt werden. Zudem hofften sie, irgendwo auf Menschen zu treffen, bei denen sie ein wenig Brot und Bier erstehen konnten, vielleicht gar für eine Nacht aufgenommen wurden, denn nun hatte auch noch Regen eingesetzt.
Agnes wusste, das würde nicht ungefährlich sein. Einige Male schon hatten sie von weitem umherziehende Scharen beobachtet – ob flüchtende Bauern oder versprengte Söldner, war nicht auszumachen gewesen.
«Dort hinten scheint ein Bach zu sein.» Rudolf wies auf einen Weiler im Seitental der Rems. «Versuchen wir da unser Glück.»
Als sie näher kamen, sahen sie, dass auch dieser Flecken verlassen war. In den Pfützen zwischen den zerstörten Häusern lagen nasse, aufgedunsene Tierkadaver, Ratten flohen vor ihrem Hufschlag. Alles, was irgendwie zu gebrauchen war, schien geraubt: die hölzernen Türen und Fensterrahmen, Zaunlatten, Gartenpforten, selbst die Strohbündel der Dächer.
«Hier ist keine Menschenseele», sagte Rudolf.
Agnes hob den Kopf. «Irgendwer versucht, hier Feuer zu machen. Riechst du es nicht? Es kommt von dort hinten, bei der Scheune.»
Sie lenkten ihre Pferde zur der Scheune am Dorfrand. Als sie um die Ecke bogen, sahen sie inmitten eines Haufens Gerümpel eine Frau. Sie stand mit dem Rücken zu ihnen, barfuß, in der Hand einen brennenden Kienspan. Was sie auf dem Leib trug, waren nurmehr Fetzen.
Agnes glitt vom Pferd und reichte Rudolf ihre Zügel.
«Lass mich das machen», flüsterte sie.
Vorsichtig näherte sie sich der Fremden. Dann rief sie leise: «Grüß Euch Gott, gute Frau. Habt Ihr für uns etwas Brot und Wasser?»
Da wandte sich die Frau um, und Agnes setzte für einen Moment der Herzschlag aus. Die offenen, vor Dreck starrendenLocken umrahmten ein Gesicht voller Schorf, die Augen blickten wie aus einer Maske. Vor ihr stand Luise, das boshafte alte Klatschmaul aus der Residenz. Mit einem Mal erinnerte sich Agnes, dass die Spülmagd ihre Heimat hier im Remstal hatte.
Luise schien nicht minder
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