Die Gauklerin
eines Knaben. Er hielt die Augen geschlossen, während er spielte, und schien Agnes nicht zu bemerken. Sein Aufzug wirkte äußerst befremdlich: Zu den bloßen Füßen trug er die vornehme Schaube eines Ratsherren und einen Landsknechthut; sein schmutziges weißes Hemd starrte vor Dreck und Blutflecken.
Leise trat Agnes bis auf wenige Schritte heran, dann schloss auch sie die Augen und überließ sich dem Zauber der wehmütigen Musik. Sie schien das Böse, das Grauen dieser Welt zu bannen, um endlich der Trauer der Menschen Raum zu geben.
Als der letzte Ton verhallt war, musste sie sich zwingen, die Augen zu öffnen. Der Junge glotzte sie mit offenem Mund an.
«Wer bist du?», fragte sie ihn.
Der Junge antwortete nicht. Er mochte achtzehn, neunzehn Jahre zählen. Jetzt glaubte sie, Furcht in den hellen Augen des kindlichen Gesichts flackern zu sehen. Sie wandte sich um: Hinter ihr hatte sich die gesamte Truppe versammelt. Der Prinzipal kam näher.
«Sag uns, wie du heißt. Wir tun dir nichts.»
Doch der Junge war längst hinter einen verkohlten Balken gesprungen und kauerte sich unter seinem Umhang zusammen. Ein leises Wimmern war zu hören.
«Ich glaube, das ist ein Unsinniger», sagte der Prinzipal. «Wahrscheinlich der Dorfnarr. Auf, Leute, wir verschwinden von hier.»
«Nein, wartet.» Entschlossen kletterte Agnes über die Trümmer zu dem Burschen und sprach leise auf ihn ein. Das Wimmern verstummte. Schließlich gelang es ihr, seine Hand zu fassenund ihn aus dem Trümmerhaufen zu ziehen. Sie trat vor den Prinzipal.
«Wir dürfen ihn nicht hier lassen. Er hat alles verloren.»
«Lass ihn los, und komm jetzt endlich.»
«Agnes hat Recht», mischte sich Magnus ein. «Und dann sieh dir seine Muskeln an. Der zieht uns die Karren durch jedes Schlammloch. Musikant ist er obendrein – auch wenn er gottserbärmlich nach Ziegenmist stinkt.»
«Ach macht doch, was ihr wollt.» Der Prinzipal stapfte davon.
Jetzt erst ließ Agnes die Hand des Jungen los. «Möchtest du mit uns kommen?»
Wiederum erhielt sie keine Antwort.
«Nun gut. Wenn du mit uns kommen möchtest, dann folg uns einfach. Ich heiße übrigens Agnes, das hier sind Lisbeth und ihr Mann Magnus.»
Als sie wenig später mit ihren Karren und Bündeln das Dorf verließen, sah Agnes sich um. Einen Steinwurf hinter ihnen ging der Junge. Er hielt den Kopf gesenkt und presste seine Fidel an die Brust wie eine Mutter ihr Neugeborenes.
Der seltsame Bursche fügte sich in ihre Truppe, als gehöre er seit Urzeiten dazu. Er arbeitete und gehorchte, gehorchte und arbeitete ohne eine Spur von Widerwillen. Nur in einem zeigte er sich stur wie ein Maulesel: Als einer der Kräftigsten sollte er vorn an der Spitze marschieren, doch nicht einmal die Rutenstreiche des Prinzipals brachten ihn davon ab, in unmittelbarer Nähe von Agnes zu bleiben. Bald spotteten die anderen über ihn als Agnes’ neuen Bräutigam. Ihr selbst war die nahezu hündische Ergebenheit anfangs unheimlich. Zumal der Junge auch am zweiten Tag in ihrer Gesellschaft kein Wort sprach und sich des Nachts neben sie bettete. Er schien tatsächlich stumm zu sein. Dass er auch blöde sei, glaubte sie indessen nicht. Noch nie hatte sie jemanden so ausdrucksvoll Fidel spielen hören.
«Hör zu», hatte sie ihm gleich zu Anfang gesagt. «Ich weiß nicht, ob du nicht sprechen willst oder nicht kannst. Aber einen Namen brauchst du auf jeden Fall. Ich werde dich Andres nennen. Das passt zu dir. Und es passt zu Agnes.»
Da war ein Leuchten über das traurige Gesicht gegangen.
Am fünften Tag endlich stießen sie auf Spuren durchziehender Truppen. Sie waren einem Firstweg oberhalb der Jagst gefolgt, bis sie in der Abenddämmerung auf einer Lichtung Halt machten und ihr Nachtlager richteten. Unten am Fluss, etwa eine Wegstunde entfernt, sahen sie auf einmal ein Lagerfeuer aufleuchten, dann noch eins.
Der Prinzipal befahl, die Lichtung nicht zu verlassen. Morgen früh wolle er herausfinden, was für Volk dort unten lagerte.
«Hoffen wir, dass das ordentliche Truppenverbände sind und keine Marodeure», murmelte Lisbeth.
«Ich denke, das ist tatsächlich Piccolominis Nachhut», entgegnete Magnus. «Für versprengte Söldner ist das Lager viel zu groß.»
Tatsächlich flackerten bald an die dreißig Feuerstellen in der Dunkelheit. Agnes’ Herz begann schneller zu schlagen. Morgen würde sie am Ziel ihrer Reise sein.
Bis zu de Paradas letztem Atemzug war Matthes bei seinem Freund geblieben. Als
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