Die Gauklerin
wurden beide erschlagen. Es tut mir sehr Leid», fügte sie hinzu.
Agnes hob den Blick. Wie friedlich sich der Sternenhimmel über diese heillose Welt spannte. Er schien ihr wie ein Versprechen, dass es noch einen anderen Ort gab, an dem alles seine Ordnung hatte.
«Kann ich dieses Päckchen sehen?»
«Gewiss, wenn du es möchtest. Warte hier, ich rede mit Magnus’ Freund. Der ist hier der Prinzipal.»
Als Lisbeth zurückkehrte, hatte sie einen hageren Mann beisich, in dessen Gesicht noch Reste von Schminke glänzten. Sein Händedruck war energisch.
«Agnes Marxin?»
Er reichte ihr ein kleines, in dunkelroten Stoff gebundenes Päckchen. «Das hat mir Kasimir übergeben, nachdem er seinen Kontrakt unterschrieben hatte. Für seinen Sohn David in Stuttgart, im Falle seines Todes. Nun übergebe ich es Euch als seiner Witwe.»
Bei diesen Worten schossen Agnes endlich die Tränen in die Augen. Wie ein Orkan, der den Baum schüttelt und zu Boden zwingt, kam der Schmerz über sie. Wie nahe war sie Kaspar gekommen, und jetzt war er tot. Der einzige Mann in ihrem Leben, für den sie brennende Liebe empfunden hatte, hatte sie ein zweites Mal verlassen, für immer. Und David hatte endgültig seinen Vater verloren.
«Weine nur», flüsterte Lisbeth, «weine nur.» Sie hielt Agnes, die immer wieder von Neuem zu schluchzen begann, fest im Arm.
Die Vorstellung der Gaukler ging zu Ende, und das Volk zerstreute sich. Agnes hob den Kopf und atmete tief durch.
«Es geht schon wieder.»
Sie faltete das Päckchen auseinander. In einem Beutel lag eine Halskette mit silbernem Kreuz, auf dessen Rückseite Davids Name eingraviert war, dazu ein Brief.
Lieber David!
Es gibt Dinge im Leben, die wir nicht verstehen. Du wirst nicht verstehen, dass du niemals deinen leiblichen Vater um dich gehabt hast, einen Vater, der dich umsorgt und heranwachsen sieht. Und dennoch hast du einen Vater, wenn er auch schwach ist und, mag sein, ein Feigling. Meine einzige Hoffnung ist, dass du eines Tages ohne Zorn an mich denkst und ohne Verachtung.
Deine Mutter habe ich geliebt bis zum letzten Augenblick unseres Abschieds, und danach vielleicht noch mehr. Doch ich musste
fliehen; mir drohte der Galgen für eine große Dummheit, die ich um unserer Familie willen begangen habe. Schließlich solltest du nicht aufwachsen mit der Geißel, einen Halunken zum Vater zu haben. So hab ich beschlossen, erst wieder zu euch zurückzukehren, wenn Gras über die Sache gewachsen sein würde. Dann aber kamen böse Kriegswirren dazwischen, ich wurde schwer verwundet, war fast schon tot, und eine Frau, die der Krieg selbst eben erst zur Witwe gemacht hatte, hat mich gerettet. Da konnte ich nicht mehr zurück.
Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an dich gedacht hätte. Jetzt, wo ich diese Zeilen schreibe, weiß ich, dass du neun Jahre alt bist und wahrscheinlich mit deinen Freunden durch die Gassen tobst. Vielleicht hast du dir gestern die Knie aufgeschlagen und trotz Schmerzen die Zähne zusammengebissen. Oder du hattest einen Streit mit deinem besten Freund und bist deswegen traurig. Solche Dinge stelle ich mir vor, um dich bei mir zu haben.
Nie wieder habe ich seit meiner Flucht aus Stuttgart jemanden betrogen oder bestohlen. Ich ziehe als fahrender Sänger durch die Lande, bin also ein Gaukler und damit in den Augen der meisten Menschen ein Mann ohne Recht und Ehre. Falls du dich dafür schämen solltest, kann ich das verstehen. Dann denk dir einfach etwas aus, wenn dich jemand fragt, was dein Vater für ein Mann ist. Vielleicht aber hat dir deine Mutter, meine geliebte Agnes, ja ein wenig mehr über das Leben der fahrenden Leute erzählt, und dann weißt du, dass wir unsere eigene Ehre und unseren eigenen Anstand besitzen.
Die Kette mit dem silbernen Kreuz habe ich in Ulm erstanden. Sie soll dir Glück bringen und dich beschützen. Ich selbst habe die große Hoffnung, dass ich dich wenigstens nach meinem Tode kennen lernen werde, denn ich weiß, dass die Seelen der Verstorbenen immer in der Nähe der Lebenden sind, die sie lieben.
Gott schütze und behüte dich wie deine Mutter. In Liebe, dein Vater.
Jetzt erst bemerkte Agnes, dass Rudolf zurück war und sich neben sie gesetzt hatte.
«Was ist mir dir?»
«Kaspar ist tot», flüsterte sie. «Er hat David einen Brief hinterlassen. Und ein silbernes Kettchen.»
Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und blickte den Prinzipal an. «Ich werde es meinem Sohn überbringen. Wann brecht Ihr
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