Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Gauklerin

Die Gauklerin

Titel: Die Gauklerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Astrid Fritz
Vom Netzwerk:
Hand drückte. Nach dieser kargen Mahlzeit beeilten sie sich weiterzuziehen, denn von Westen her zogen schwarze Wolken auf. Das Dorf war bereits in Sichtweite, als sie an eine Ölmühle gelangten. Die Fenster des stattlichen Wohnhauses waren zerschlagen, kein Hund gab Laut, kein Huhn gackerte. Nur das Rascheln des Windes in den Zweigen einer Erle war zu hören.
    Der Prinzipal ließ seinen kleinen Tross anhalten und betrat mit der geladenen Büchse im Anschlag den Hof.
    «Heda! Ist hier jemand?»
    Als sich nichts rührte, gab er den anderen einen Wink, und Agnes folgte Lisbeth und Magnus durch die nur angelehnte Türe. Augenblicklich schlug ihnen beißender Verwesungsgeruch entgegen. Im nächsten Moment schrie Agnes auf und stürzte an den anderen vorbei ins Freie: In der Schlafkammer lagen zwei Tote, von denen niemand mehr zu sagen vermochte, ob Mann oder Frau. Die Ratten hatten sie bis auf die Knochen zernagt.
    Agnes lehnte an ihrem Karren und rang keuchend nach Luft.
    «Geht es wieder?», fragte Lisbeth, die ihr nachgelaufen war.
    «Ich will weg hier.»
    «Beruhige dich. Wir ziehen weiter, ins Dorf.»
    Wie gelassen Lisbeth wirkte! Als habe dieser Anblick sie kaum berührt. Agnes richtete sich auf, als der Prinzipal das Zeichen zum Weitermarsch gab.
    «Müssen wir sie denn nicht begraben?», fragte sie.
    Lisbeth schüttelte den Kopf. «Da hätten wir viel zu tun in diesen Zeiten. Und ich fürchte fast, im Dorf drüben werden wir es nicht besser vorfinden. Wer in dieser Mühle geplündert und gemordet hat, wird das Dorf kaum ausgelassen haben.»
    Auf unsicheren Beinen schritt Agnes neben ihrer Freundin her, vorbei an verwüsteten Äckern und Gärten, hin zu dem Dutzend Häuser, die ihnen aus blinden Fensterlöchern entgegenstarrten. Dennoch marschierten sie weiter mitten hinein, trotz Brandgestanks und eines anderen, leicht süßlichen Geruchs, der sich immer stärker darunter mischte. Offensichtlich hoffte ihr Prinzipal, noch Reste an Vorräten zu finden.
    Agnes machte sich auf das Schlimmste gefasst. Doch was sie dann auf dem Kirchplatz zu sehen bekam, stellte an Grauen alles, was sie bisher erlebt hatte, in den Schatten: Ein riesiger Schwarm Rabenvögel stieg aus dem welken Laub einer Linde in die Luftund gab den Blicken frei, was in den Ästen hing: nackte, verstümmelte Leichen, mit leeren Augenhöhlen, abgeschlagenen Händen und Füßen, manche mit aufgerissenen Bäuchen, aus denen das Gedärm hing – ein gutes Dutzend mindestens, darunter Frauen und Kinder.
    Agnes stürzte zur Mauer des Kirchhofs und übergab sich in heftigen Krämpfen. Auch die anderen rangen sichtlich um Fassung. Stumm starrten sie auf dieses Zeugnis menschlicher Barbarei, regungslos, ein verlorener Haufen in einem weiteren verheerten, namenlosen Dorf.
    Agnes begann lautlos zu schluchzen. «Was sind diese Kaiserlichen nur für Blutsauger und Ungeheuer», hörte sie Lisbeth sagen, «hat ihnen denn ihr Sieg nicht gereicht?» – «Das waren Protestantische.» Magnus spuckte aus. «Dort, auf dem Kirchenportal. Das Zeichen der Hornschen Truppen.»
    Mit einem Mal stieg eine gewaltige Wut in Agnes auf, gegen den Kaiser, gegen die Schweden, gegen alle Kriegsvölker dieses Reiches und vor allem gegen ihren Bruder Matthes. Dem seine Abenteuerlust mehr bedeutete als alles andere, der sich, wie es schien, für immer aus dem Staub gemacht hatte. Und der sie, Agnes, dazu gebracht hatte, ihr halbwegs sicheres Zuhause samt ihrem eigenen Sohn zu verlassen, nur um den Hundsfott von Bruder mitten in dieser Hölle zu suchen.
    So standen sie schweigend in dem Dorf, das still und tot darniederlag, von den Schwärmen ekliger Schmeißfliegen abgesehen. Plötzlich horchte Agnes auf. Träumte sie oder ertönte da wirklich eine Melodie? Sie schien aus einer anderen Welt zu stammen. Zunächst leise und zart wie ein Windhauch, wurde sie allmählich kräftiger und schwang sich voller Schwermut über diesen Ort des Grauens. Die Welt lag im Sterben, und jemand spielte dazu die Begräbnismusik.
    «Das ist eine Fidel», flüsterte Lisbeth. Agnes hob den Kopf und lauschte. Die Fidel weinte und klagte, es war wie eine menschlicheStimme, die sie zu sich lockte. Ihre Angst war verflogen. Schritt vor Schritt ging sie an den Toten im Geäst vorüber, dann um den Chor der rußgeschwärzten Kirche herum, bis sie auf einem buckligen, kleinen Platz stand. Inmitten der schwelenden Trümmer eines Wohnhauses an dessen Rande stand ein Mann, groß und breitschultrig, doch mit dem Gesicht

Weitere Kostenlose Bücher