Die Gauklerin
Scharbock, und die ersten Opfer von Bräune, Fleckfieber und Roter Ruhr waren zu beklagen. Das Einzige, was es im Überfluss gab, waren Ungeziefer und Ratten, auf die die Kinder Jagd machten. Der Gestank der überquellenden Latrinen war kaum noch zu ertragen.
Matthes bemerkte, wie bedächtig Mugge Schritt vor Schritt setzte.
«Du hast Hunger, nicht wahr?»
Der Junge nickte.
«Das Bier wird dir gut tun.»
Sie hatten die Stroh- und Laubhöhlen der Fußknechte hinter sich gelassen und kamen an den Zelten der Offiziere vorbei. Selbst die Pferde waren hier in Zelten untergebracht. Matthes schnaubte verächtlich, als ihm der Duft von frischem Butterkuchen in die Nase stieg. Ganz gleich, wie elend es im Lager zuging: Die hohen Herren wussten sich immer ihre Köstlichkeiten zu verschaffen.
Vor dem Bierwagen ließ sich Mugge auf die nasse Erde sinken. Sein Gesicht war bleich. So stellte sich Matthes selbst in die Schlange und kam bald darauf mit einem Krug Starkbier und einem Kanten Brot zurück. Zwanzig Kreuzer hatte ihm der Wirt für das Maß abgeknöpft.
«Das Brot ist für dich.» Er reichte Mugge Brot und Krug. «Wenn du mir nur von dem Bier ein Schlückchen übrig lässt.»
Nur langsam kam wieder Farbe in Mugges Gesicht. Matthes sah ihn besorgt an.
«Dass du mir nur nicht krank wirst.»
Der Junge schüttelte den Kopf und lächelte. «Es wird nicht mehr lange dauern, und wir erobern die Stadt. Und dann werde ich für uns große Beute machen, das könnt Ihr mir glauben.»
30
Die bange Frage, ob sie in diesem Lager unten am Fluss endlich auf Matthes treffen würde, verfolgte Agnes bis in den Schlaf. Mal träumte sie von ihrem Bruder, der auf dem Schlachtfeld um sein Leben kämpfte, mal von ihrer Mutter, die lautlos nach ihren Söhnen schrie. Noch vor Sonnenaufgang erwachte sie. Das Lager aus Laub und Zweigen neben ihr war leer.
«Andres?», rief sie leise. Im Osten färbte sich der Himmel grau, einer schwarzen Wand gleich erhob sich der Wald gegen die kleine Lichtung. Die Luft war kalt und feucht, sie roch nach Schnee.
Agnes griff nach ihrem Mantel und erhob sich. Am Rande ihres Nachtlagers sah sie die regungslosen Silhouetten dreier Männer. Sie erkannte Magnus’ schlanke Gestalt, daneben die breitschultrige von Andres. Sie schienen zu lauschen, Magnus mit dem Handrohr im Anschlag.
Irgendetwas stimmte nicht. Angespannt näherte sich Agnes den Männern. «Was gibt es?»
«Bleib bei den andern.» Das war der Prinzipal.
In diesem Augenblick knackte es im nahen Gehölz. Zehn, fünfzehn Männer stürzten aus dem Dunkel, schwangen Schwerter und Dolche, einige gar Reiterpistolen, die Frauen fuhren aus dem Schlaf und schrien, das Maultier wieherte, und Agnes sah noch, wie Magnus seine geladene Büchse zündete und Andres einen Angreifer mit der bloßen Faust niederschmetterte. Wieder fielen Schüsse. Da rannte sie los. Stürzte hinüber zum Fahrweg, auf der anderen Seite den dichten Wald hinauf, immer weiter, immer steiler empor, sie musste sich an Wurzeln und Ästen festkrallen, rutschte immer wieder weg, verlor einen Schuh. Schmerzhaft peitschten Zweige ihr Gesicht. Nur weg von hier, weg, hinein in den Schutz des Waldes.
Irgendwann – sie hätte nicht sagen können, wie viel Zeit vergangen war – wurde das Gelände flacher, der Wald lichter. Sie hielt keuchend inne. Ihr Herz pochte bis in die Schläfen. Erschöpft schleppte sie sich weiter, in die Morgendämmerung, die langsam erkennen ließ, dass sie in einem Buchenhain auf einer Art Hochebene herumirrte. Sie ließ sich auf einen umgestürzten Baumstamm sinken und starrte in die Einsamkeit des Waldes. Jetzt war geschehen, was sie niemals für möglich gehalten hatte. Was war sie nur für ein Dummkopf, dass sie das Wagnis dieser Reise auf sich genommen hatte. Wenn sie nicht zu den anderen zurückfand, war sie verloren. Das Wort begann in ihrem Schädel zu hämmern: Verloren, ich bin verloren, endgültig verloren. Weiß nicht einmal, in welche Richtung, alles sieht hier gleich aus.
Sie sprang auf, zog sich die Kapuze über den Kopf. Ihr bloßer Fuß begann vor Kälte zu schmerzen. Das Flusstal musste sie wiederfinden. Irgendwo in der Nähe des Flusses waren die anderen. Lisbeth und Magnus, ihr stummer Beschützer Andres. Sie tastetenach dem Pferdchen, das sich noch immer an seiner Stelle im Rocksaum befand. Bring mich zurück, flüsterte sie.
Als sie den Waldrand erreichte, breiteten sich vor ihr nichts als feuchte Wiesen und brachliegende Felder aus. Kein
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